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Wie hältst du’s mit der Religion?

Falsche Debatte: Ab dem 9. Jahrhundert nach Christus gab es eine Aufklärung im Islam - die deutsche Aufklärung hatte Respekt davor

  • Miriam Sachs
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Orient faszinierte immer wieder deutsche Dichter. Die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler schuf sich in Gedichten, Zeichnungen und sogar in vielen Briefen die Identität »Prinz Jussuf« - lange bevor sie ins damals noch Palästina genannte Israel auswandern musste; Johann Wolfgang von Goethe war fasziniert vom Islam und hätte gerne Arabistik studiert statt Jura; in seiner Sturm-und-Drang-Zeit befasste er sich mit dem Leben des Propheten Mohammed, den Koran las er mehrfach, fand ihn »streng, gross, furchtbar, stellenweis wahrhaft erhaben«. Sein Bild mag ein Phantasie-Islam Marke Eigenbau gewesen sein - Goethe, selbst streng protestantisch erzogen, fand im Islam ein ähnlich deterministisches Weltbild und kombinierte ihn mit der pantheistischen Gottesidee und einer Prise Mystik. Gotthold Ephraim Lessing beschwor in seinem letzten Theaterstück »Nathan der Weise« nicht nur die Vision vom toleranten Miteinander aller Religionen im Nahen Osten, sondern nutzte seine Figuren - ob Jude Nathan oder Sultan Saladin als Sprechrohr im Fragmentenstreit - für eine der leidenschaftlichsten religiösen Debatten der 1770er Jahre der Aufklärung. Nicht etwas Katholiken und Protestanten stritten sich damals um theologische Fragen, sondern die Protestanten untereinander.

In den aktuellen Debatten ist viel die Rede davon, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Und davon, dass der Islam keine Phase der Aufklärung durchlebt, nicht wie das Christentum reformiert worden sei. Das ist nicht ganz richtig. Die arabische Kultur und Wissenschaft hatte ihre Hochblüte weitaus früher - als man in Deutschland noch kaum wusste, was ein Reim ist; von Spanien aus verbreiteten die Araber ab 900 n. Chr. eigene wie auch fremde Errungenschaften in Kultur und Wissenschaft; Im 12. Jahrhundert hatte diese Blütezeit ihren Höhepunkt mit den Lehren Ibn Ruschds alias Averroës, der mit aristotelischer Logik und Vernunft bereits im Mittelalter den Islam »reformierte«. Die Vernunft stand für ihn nicht im Widerspruch zum Glauben, er sah sie als wichtigstes Werkzeug zur Erleuchtung. Anders als die islamische Orthodoxie, die Averroës’ Werke prompt verbrannte, sah er im Koran geradezu eine Aufforderung zur Interpretation: »Denkt nach, die ihr Einsicht habt«, heißt es in Sure 59.

Zur Person

Miriam Sachs ist Schriftstellerin und Theatermacherin und lebt in Berlin. Mit ihrem Ensemble »Film Riss Theater« sucht sie nach Schnittstellen zwischen Film, Theater und Literatur. Für ihre Kriegsheimkehrer-Prosa »Die Heimkehrer« erhielt sie 2014 den Gustav Regler Literaturpreis. Ende November wird im Berliner »Theater unterm Dach« ihr Stück »Die Saat« nach dem gleichnamigen Roman von Gustav Regler Premiere haben; ein Stück über den Bauernkrieg, Islamophobie und die Wirksamkeit von Feindbildern.

Foto: privat

In diesem Sinne verwundert es nicht, dass bereits bevor Romantik, Klassik sowie Sturm und Drang den Islam »entdeckten«, die deutsche Aufklärung großen Respekt vor dieser Religion hatte. Lessing befasste sich zeitlebens mit dem Thema »Religion und Vernunft«. In seinen späten theologischen Schriften schwebte ihm die »Erziehung des Menschengeschlechts« vor, im Grunde ganz im Sinne des Averroismus: Die Entwicklung der menschlichen Vernunft erschließt erst den Glauben, laut Lessing in drei Stadien, die auch alle Völker und Kulturen durchlaufen. Die dritte Phase wäre die der vollkommenen Erleuchtung, sozusagen eine Art Nirvana; in ihr muss weder mit Strafen und Regeln gedroht werden, wie in der ersten Phase (Altes Testament), noch mit der Aussicht auf Belohnung im Jenseits (zweite Phase oder Neues Testament). Diese Stadien durchlaufen laut Lessing alle Völker, an ihren Religionen könne man den jeweiligen Entwicklungsstand ihrer Vernunft erkennen.

Im Vergleich zu Goethe war Lessings Traum vom Orient mehr von Vernunft geprägt. Sein Nathan spielt in den Zeiten der Kreuzzüge und entwirft die friedliche Utopie einer »Nahostkonflikt-Lösung« - zu Lessings Zeiten nicht ganz so utopisch, wie sich das heute anhört. Sein Sultan Saladin ist darin ein toleranter und einsichtigen Herrscher, der sich im Streit darüber, welches denn die wahrhaftige der monotheistischen Religionen sei, vom Juden Nathan belehren lässt: Islam? Judentum? Christentum? - Keine der drei! Oder alle! Die berühmte Ringparabel vom Vater, der allen seinen geliebten Söhnen den Erbring verspricht und daher zwei Duplikate anfertigen lässt, lehrt, dass es nicht möglich ist herauszufinden, welche die bevorzugte Religion ist. Im Glauben jedes der drei Söhne, den wahren Ring zu besitzen, liegt bereits die Berechtigung, die Wahrhaftigkeit des Glaubens. Der Ring ist sozusagen das mystische Element, aber es bedarf der Logik des Gedankens, um zur Erleuchtung zu kommen.

Gemessen an der Zeit der Kreuzzüge freilich machte sich die Vernunft und Toleranz der gelehrten muslimischen Herrscher nicht ganz schlecht. Während in deutschen Landen die Bauernkriege tobten, Katholiken und Protestanten sich zerfleischten, gab Lessing zu bedenken, dass »Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren«. Zu Lessings Zeiten war die Kirche zwar bereits seit gut 250 Jahren reformiert, aber Glaubensfragen polarisierten nicht nur Theologen sondern auch Literaten und Intellektuelle. So wie im 12. Jahrhundert orthodoxe Muslime gegen den aufgeklärten Islam zu Felde zogen, gingen sich 1777 im sogenannten Fragmentenstreit orthodoxe Lutheraner und aufgeklärte Reformierte auf dem Papier an die Kehle.

Lessings literarisch-philosophische Zeitschrift »Zur Geschichte und Literatur« erfreute sich zu dieser Zeit einer ungewöhnlichen Zensurfreiheit; Lessing veröffentlichte deshalb in ihr Auszüge aus den Schriften des verstorbenen Arabistik-Gelehrten Hermann Samuel Reimarus. Die Angriffe, Darstellungen und Gegendarstellungen tragen so illustre Titel wie »Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg«, »Lessings Schwächen III.« oder »Anti-Goeze«. Lessing büßte schließlich nicht nur die Zensurfreiheit ein, man erteilte ihm auch »Publikationsverbot für das Gebiet der Religion«. Der Gelehrte wusste jedoch Abhilfe: »Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen« - und setzte sich an die Neukonzeption des »Nathan«.

So ruhig es hierzulande geworden ist um die eigene Religion - fast vergisst man, dass die Bundesrepublik kein laizistisches Staatsmodell ist - und so dankbar man für Frieden, Religions- und Pressefreiheit auch sein muss: Verkümmert mit diesem Konsens nicht auch die Auseinandersetzung mit und die Neugierde auf andere Kulturen, andere Religionen? Wer sucht angesichts der Political Correctness noch den zwischenreligiösen, intellektuellen, konfliktreichen Disput? Wenn es 1817 noch ein kühner Vorschlag Goethes gewesen war, das Lutherjahr lieber so zu feiern, dass es »jeder wohldenkende Katholik« mitfeiern könne - »Ein Fest der reinsten Humanität, an dem nicht etwa nur Christen, sondern auch Juden, Mohametaner und Heiden Anteil haben sollten« -, so gilt dies heute als selbstverständliche Political Correctness. Aus Toleranz? Oder doch nur aus Bequemlichkeit?

Wir stehen längst über Glaubensstreitereien. Es ist progressiv, Religionsunterricht nur noch als Alternative zu Ethik anzubieten, anstatt wirklich zu lernen, was sich hinter all den zigfachen Varianten der Gretchenfrage verbirgt: »Wie hältst du’s mit der Religion?« Müsste in Anbetracht der Sprengkraft, die Glaubensfragen haben, in Anbetracht der vielen Flüchtlinge, der vielen Glaubensrichtungen, Religion nicht eigentlich dreimal so oft pro Woche auf dem Lehrplan stehen?

Es gibt nicht »die« Religion. Nicht »den« Protestantismus. Nicht »den« Islam. Es gab ihn vielleicht nie. Es gibt den der Mystiker, den der Orthodoxie, der die Offenbarung im wortwörtlichen Schriftdiktat sieht und selbst eine Übersetzung der gottgesandten Suren in andere Sprachen ablehnt; es gibt den Averroismus, der schon zu Zeiten des Mittelalters eine Aufklärung vorwegnahm, in den 1920er Jahren wiederaufgegriffen im »Enlightened Muslim Thought«, der weder in Koran noch Scharia den Anspruch verankert sieht, dass der Islam als Religion auch den Islam als Staatsform bedeutet; es gibt die Sunna, die das anders sieht, die Shia, es gibt Salafisten ... Und es gibt orthodoxe Lutheraner, es gibt den Deismus, den Neoismus - wir haben das allerdings vergessen.

Es gibt die Angst vor dem Islam, die Assoziation »Islamischer Staat«, das Gefühl der völligen Fremdartigkeit, das Gefühl, die Flüchtlinge müssten uns danken, indem sie sich möglichst schnell anpassen, sich integrieren lassen, die deutsche Religion schätzen lernen - oder bald wieder abziehen. Niemand kommt auf die Idee, dass Integration Interesse und Neugierde von beiden Seiten voraussetzt, kaum einer setzt sich wirklich mit dem Islam auseinander. Goethe könnte man sich da durchaus zum Vorbild nehmen. Und Lessing.

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