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»Widerlichstes politisches Theater«

Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) kritisiert den Umgang mit obdachlosen Menschen

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 5 Min.

In Berlin steigen die Obdachlosenzahlen. Die Räumung von Camps führt nur dazu, dass die Menschen in anderen Bezirken ihre Zelte aufschlagen. Wie geht der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit dem Thema um?
Was wir schon machen, ist, dass wir große Camps auflösen. Das tun wir, wie alle anderen Bezirke auch, weil wir dort sehr große Probleme mit Hygiene haben. Das wird immer eng begleitet vom Sozialamt, sodass auch Alternativen angeboten werden, wo die Leute wohnen können. Das heißt jedoch nicht, dass wir adäquate Angebote für alle Zielgruppen haben.

Wer sind die Obdachlosen?
Es gibt ganz unterschiedliche Gruppen von Leuten, die obdachlos sind. Wir haben in Friedrichshain-Kreuzberg junge Menschen, die im Sommer mit einem Zelt kommen, um sich die Hotelkosten zu sparen. Wir haben Roma-Familien, die saisonal kommen und gehen. Dann haben wir die klassischen obdachlosen Männer. Wir haben die verdeckte Obdachlosigkeit von Frauen, die sich auf der Straße nicht so widerspiegelt. Wir haben durch die Gentrifizierung zunehmend alleinerziehende Frauen mit Kindern, die obdachlos geworden sind. Und dann haben wir die wachsende Gruppe der osteuropäischen Obdachlosen, die gerade sehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Die stehen jedoch nicht für alle Obdachlosen, deswegen ärgere ich mich über die verkürzte Diskussion, die gerade stattfindet. Wir müssen uns die verschiedenen Gruppen genau angucken, das Problem ist jedoch, dass wir keine validen Daten über Obdachlosigkeit in Berlin haben.

Wie kommt es, dass es immer noch keine amtliche Statistik zu Obdachlosenzahlen gibt?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das wird aber auf alle Fälle Thema sein in der am Donnerstag verabredeten gesamtstädtischen Arbeitsgruppe unter Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE). Wenn wir adäquate Angebote entwickeln wollen, brauchen wir natürlich einen genauen Überblick.

Ihr Parteifreund, der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, wollte zuletzt die Obdachlosen in Mitte abschieben lassen.
Wir haben jetzt zwei BürgermeisterInnen, die sich gerade in einem Wettbewerb der Härte befinden. Meine Kollegin in Neukölln will die ganze Stadt aufräumen, und mein Kollege in Mitte will das durch Abschiebung schaffen. Ich finde beides sehr überzogen und dem Problem nicht angemessen. Dieser martialische Diskurs hilft niemandem, außer vielleicht, dass man fünf rechte Wählerstimmen mehr kriegt. Weder kann Frau Giffey eine bestimmte Gruppe von Obdachlosen in Busse stecken, wie sie behauptet, noch können die osteuropäischen Obdachlosen einfach abgeschoben werden, da es sich hier in der Regel um europäische Staatsbürger handelt.

Unter den Obdachlosen sind zunehmend OsteuropäerInnen, psychisch Kranke, Frauen und sogar ganze Familien. Wie könnte man deren Bedürfnissen gerecht werden?
Es gibt wenig Angebote für psychisch kranke Obdachlose. Wir haben das Problem, dass diese Leute nicht krankenversichert sind. Die haben zwar dringend Bedarf, können aber keine Hilfe in Anspruch nehmen, weil sie nicht im System sind. Für alleinerziehende Frauen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, hat die Diakonie ein spezielles Angebot entwickelt. Am Freitag eröffnet sie im Wrangelkiez eine Einrichtung speziell für diese Zielgruppe. Wir müssen viel stärker darauf achten, wenn Familien obdachlos werden. Auch hier spielt die Wohnraumknappheit eine entscheidende Rolle. Hier muss der Wohnungsbau viel stärker forciert werden. Zudem muss die ärztliche Versorgung und die Straßensozialarbeit weiter ausgebaut werden. Ich glaube aber auch, dass es mehr Einrichtungen geben muss, wo sich auch Drogen- und Alkoholabhängige aufhalten können.

Eine »Task Force« soll jetzt eine gesamtstädtische Lösung erarbeiten. Ist das ausreichend? Und warum sitzen keine Wohlfahrtsverbände wie die Caritas mit am Tisch?
Wir haben am Donnerstag im Rat der BürgermeisterInnen beschlossen, die Wohlfahrtsverbände mit einzubinden. Also die Träger, die im Bereich Obdachlosigkeit Erfahrungen haben. Mein Vorschlag ist, dass wir in verschiedenen Arbeitsgruppen Lösungsvorschläge erarbeiten. Wir müssen jedoch aufpassen, dass wir nicht primär ordnungspolitisch agieren. Man neigt ja in Berlin relativ schnell dazu, wenn es mit dem Sozialen ein bisschen schwierig wird. Die Leute werden dadurch nur verdrängt. Im Moment werden Spielchen gespielt, das ist wirklich widerlichstes politisches Theater. So lösen wir das Problem nicht. Es ist jedoch nicht so, dass wir in Berlin nie wieder Obdachlose haben werden, nur weil wir jetzt eine Task Force eingerichtet haben. Wir werden immer ein Schmelztiegel von vielen verschiedenen sozialen und finanziellen Realitäten sein. Wir merken in Friedrichshain-Kreuzberg, aber auch in den anderen gentrifizierten Innenstadtbezirken, dass man bestimmte Menschen nicht mehr haben will. Ich finde, auch in den Innenstadtbezirken muss Platz sein - sowohl für eine Eigentumswohnung als auch für eine Wagenburg.

Benötigt werden vor allem mehr Notunterkünfte. Die Kältehilfe, die in der kommenden Woche startet, wurde jetzt auf 1000 Plätze aufgestockt. Ist das ausreichend?
Wir haben ja nicht mal 1000 Plätze. Die sind angedacht, aber noch nicht da. Und selbst wenn es so weit ist, habe ich meine Zweifel, dass es ausreichen wird. Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, wenigstens für den nächsten Winter entsprechende Strukturen aufzubauen.

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