Eine Heldin und viele Perspektiven

Theaterregisseur David Bösch über seine Inszenierung von Tracy Letts’ Stück »Eine Frau«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Herr Bösch, wie sind Sie gerade auf dieses Stück gekommen?

Wir haben nach neuen Stücken gesucht, die mit unserer Zeit zu tun haben und zugleich darüber hinausgehen. »Eine Frau« bearbeitet das »heroic life of ordinary people«, hat dabei eine große Zartheit und erzählt viel über das Leben und über die Welt.

Und alles gebündelt in einer Figur unserer Tage?

Ja, man sieht eine Frau, die viele Entscheidungen trifft, die auch sehr angreifbar sind. In den klassischen Stücken arbeitet man als Regisseur oft daran, die dunklen Seiten einer Figur herauszuschälen. Mary Page ist aber bereits so angelegt, sehr verstrickt in Scham und Schuld, Abbrüche, Niedergänge, Neuanfänge.

Hat diese Mary Page Marlowe schon das Zeug zu einer dramatischen Heldin, oder ist sie einfach eine geplagte Figur in unseren so banalen wie von Widersprüchen zerrissenen Zeiten?

Ich glaube, die Frauen aus unseren banaleren Zeiten sind bereits Heldinnen. Wir schauen im Stück in dramatische Momente ihres Lebens. Und trotzdem ist es ein ganz gewöhnliches Leben von einer Frau im Hier und Jetzt. Ich finde bei Tracy Letts so interessant, dass man in der Alltäglichkeit und Einfachheit auch die Größe und Menschlichkeit von solch einer Figur sieht. Durch die Struktur und durch die Verbindung der Szenen gelingt es Letts, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie ein Leben auf der einen Seite bedeutungsvoll, dramatisch, furchtbar, utopisch, in alle extremen Richtungen gehend ist und gleichzeitig kaum mehr als eine Randnotiz in einem Lokalblatt.

Haben Sie die Struktur des Stücks beibehalten, also elf Szenen, die nicht chronologisch angeordnet sind und die damit der üblichen biografischen Logik widersprechen, dass alles im Leben sich ja genau so entwickeln musste, wie es sich entwickelt hat? Oder experimentieren Sie mit der Zeitstruktur?

Wir haben tatsächlich auch einmal eine Version gemacht, in der man die Linearität sieht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was in welcher Reihenfolge passiert. Aber der Reiz des Stückes ist die widersprüchliche Struktur. Man sieht dabei, wie sich in einer späteren Szene, die aber eigentlich früher spielt, eine frühere Szene spiegelt, die später spielt. Das ist manchmal anstrengend, aber zugleich ein Geschenk für das Schauen und für das Machen.

Letts hatte sich für das Stück selbst die Aufgabe gestellt, ein Menschenleben in elf Bildern zu erzählen. Nun sind Sie etwa halb so alt wie die Protagonistin. Welche fünf Bilder würden Sie auswählen, um die Wende- und Umkehrpunkte, die Schlüsselszenen Ihres Lebens beschreiben zu können?

Interessante Frage. Eine Szene wäre sicherlich der »Tag des Sports« in Bielefeld. Ich hatte mich als Kind viel für Schach interessiert, mir aus der Stadtbücherei Schachbücher ausgeliehen und habe gegen den Bielefelder Meister simultan gespielt. Der hat mich dann zum Schachverein eingeladen. Ich war elf oder zwölf und bin am nächsten Freitag hin. Ich habe jedoch zunächst gezögert, durch die metallene Tür zu gehen, bin sogar die Treppe weiter hochgegangen, als unten die Haustür aufging. Ich bin dann aber hinein. Und ich glaube, dieses jugendliche Schachleben mit den Menschen, die ich da kennengelernt habe, die Art, wie man beim Schach denken muss - all das hat mich sehr geprägt. In der Pubertät ist es sehr befreiend, an einem letztlich doch überschaubaren Schachbrett zu sitzen. Fürs spätere Leben im Theater ist die Lust daran geblieben, Varianten durchzugehen. Und dann war es auch die vielleicht coolste Spezies in der Jugend.

Schach-Nerds die coolste Jugendszene? Ernsthaft?

Aus der Innensicht einer Zwölfjährigen ist es die mit Abstand coolste Spezies, die man kennenlernen kann. Man spielt dort als Zwölfjährige mit Leuten zwischen 15 und 20 Jahren. Es gab auch ein Mädchenbrett, was schön war. Mit 18 habe ich dann aber aufgehört.

Jetzt sind Sie beim Neustart des Berliner Ensembles unter Oliver Reese dabei. Was bedeutet das für Sie?

Viel. Das Theater ist schon allein von der Architektur her eines der schönsten, die ich kenne, wegen der Nähe zum Publikum. Dann ist es toll, an einem Ort zu arbeiten, der so viel Theatergeschichte in sich trägt, von Brecht über die Zeiten der Fünferdirektorien und über Peymann bis hin zu dieser sehr spannenden Neuausrichtung. Ich finde, dass es Oliver Reese und seinem Team gelungen ist, einen für mich als Regisseur sehr interessanten Ansatz zu verfolgen und ein außergewöhnliches und hochkarätiges, kluges und freundliches Ensemble zusammenzustellen.

Man wird Sie also in Berlin wiedersehen - das wohl aber auf Kosten Ihrer enormen Produktivität von teilweise mehr als einem Dutzend Arbeiten pro Saison bei Oper und Schauspiel?

Die letzten Jahre waren von einer großen Produktivität und rauschhaften Arbeitszuständen geprägt. Das muss sich in einem Leben abwechseln. Jetzt ist eine Phase der stärkeren Konzentration auf weniger Orte und weniger Inszenierungen an der Reihe.

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