Zwei in einem

Intersexualität als Normvariante der Geschlechtsentwicklung

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Bei keiner anderen geschlechtlichen Besonderheit des Menschen ist so viel Halbwissen verbreitet wie bei der Intersexualität. Selbst Ärzte sehen darin bis heute eine Krankheit oder Störung, die es entsprechend zu behandeln gilt. Davon kündet auch der medizinische Fachbegriff für Intersexualität: DSD - Disorders of Sex Development (Störungen der Geschlechtsentwicklung). Viele Intersexuelle finden diese Begrifflichkeit unpassend, denn sie halten sich weder für gestört noch für behandlungsbedürftig.

Doch was ist Intersexualität? Bei der Homosexualität sind sich die meisten Wissenschaftler heute einig: Sie ist eine Normvariante des Sexualverhaltens. Ähnlich könnte man Intersexualität als Normvariante der Geschlechtsentwicklung bezeichnen. Zumal im Grunde jeder Mensch bei der Geburt intersexuell ist. Zwar wird durch die Verschmelzung von Eizelle und Spermium das Kerngeschlecht eines Individuums festgelegt (XX-Chromosomenpaar: weiblich, XY-Chromosomenpaar: männlich). Gleichwohl trägt jeder Embryo bis zur sechsten Schwangerschaftswoche Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach reifen entweder Hoden oder Eierstöcke, die Sexualhormone ausschütten und so die Entwicklung zum Jungen oder Mädchen steuern. Intersexuelle Menschen halten dagegen ihren mehr oder minder undifferenzierten Status bei.

Ursachen hierfür gibt es viele. So können etwa Geschlechtschromosomen fehlen (X0) oder überzählig vorhanden sein (XXY). Mitunter versagen auch die Sexualhormone ihren Dienst, wie das Beispiel der Androgenresistenz zeigt. Hierbei bildet ein genetisch männliches Individuum (XY) im Mutterleib Hoden aus, die männliche Geschlechtshormone (Androgene) produzieren. Doch diese bleiben wirkungslos, da die entsprechenden Rezeptoren auf den Körperzellen fehlen. Das Neugeborene ist deshalb seinen inneren Geschlechtsorganen nach ein Junge, seiner äußeren Erscheinung nach ein Mädchen, das sich auch später weiblich entwickelt. In der Pubertät bleibt allerdings die Menarche aus.

Ab den 1960er Jahren wurde bei Kindern mit nicht eindeutig bestimmbarem Geschlecht häufig schon im Babyalter eine genitalangleichende Operation durchgeführt. Denn man glaubte, dass intersexuelle Kinder keine Probleme hätten, in das ihnen von Ärzten gleichsam auf den Leib geschneiderte Geschlecht hineinzuwachsen. Ein Irrtum. Häufig traten nach der Operation Komplikationen in der Persönlichkeitsentwicklung auf, wenn das fremdbestimmte Geschlecht nicht zu den individuellen Empfindungen passte. Intersexuelle fordern daher ein Ende der frühkindlichen Genitalverstümmlungen. Denn jeder Mensch werde mit einem individuellen Geschlecht geboren und habe das Recht, dass die Gesellschaft dies akzeptiere.

Bereits 1948 betonte der berühmte Sexualforscher Alfred Kinsey: »Die lebendige Welt ist ein Kontinuum in all ihren Aspekten. Je eher wir uns dessen in Bezug auf das menschliche Sexualverhalten bewusst werden, um so eher werden wir zu einem wirklichen Verständnis der Realitäten gelangen.« Die Wissenschaft hat sich seitdem weiterentwickelt. Neben dem Sexualverhalten beziehen Mediziner heute auch die Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung in Kinseys Feststellung mit ein. Nun ist die Politik am Zug. Dank der Erfolge der Homo- und Transsexuellenbewegung bestehen tatsächlich gute Chancen, dass unsere Gesellschaft auch die Ansprüche von Menschen respektiert, die sich weigern, zwangsweise einem von zwei Geschlechtern zugeordnet zu werden.

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