Sehnsucht nach einer anderen Welt

In Kreuzberg erkundet die Performance »Tapiola« das Leben im Beton und mit der Natur

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Kollektiv der »Vierten Welt« reiste im Rahmen seiner Würdigung der sozial ausgerichteten Architekturmoderne in die finnische Gartenstadt Tapiola. Was es dort fand, waren offenbar sehr glückliche Menschen. Einzelne Bewohner priesen in Interviews den weiten Blick über den Wald bis in die untergehende Sonne hinein, die sie von ihren Balkonen hätten. Die anderen schwärmten vom Wald selbst, der bis zu den in den 60er Jahren auf Initiative eines Gewerkschaftsfunktionärs von Architekturstars wie Alvar Aalto errichteten Plattenbauten reichte.

Wieder andere lobten die Schwimmhalle, die sogar einige Spitzensportler hervorgebracht habe, noch andere das Theater. Viele erwähnten den Strand. Ein Mensch sagt sogar, dass Tapiola, diese Mischsiedlung aus Hochhäusern und flachen Riegeln, nur zehn Kilometer entfernt von der Hauptstadt Helsinki an den ausgefransten Buchten des Finnischen Meerbusens, »der beste Ort der Welt« sei. Und alle betonten immer wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl der alten und auch der neuen Bewohner in diesem Stadtviertel.

Den Trip nach Finnland unternahm die »Vierte Welt« im Kontext ihrer Performance-Serie »Block«. Die erkundet, ausgehend von der Hochhausbebauung des eigenen Standorts, des Neuen Kreuzberger Zentrums am Kottbusser Tor, andere Plattenbauvisionen weltweit. 2013 wurde nach Japan geschaut, 2015 ging es um Iran. Jetzt ist eben Finnland an der Reihe.

Der Termin ist gut gewählt, schließlich werden in diesem Jahr nicht nur 100 Jahre Russische Revolutionen gefeiert (oder nicht gefeiert, je nach politischer Verortung). Auch Finnland selbst wird 100 Jahre alt. Als das Zarenreich implodierte, erklärte das Parlament in Helsinki schnell seine Unabhängigkeit. Die Jubiläen hängen also auch ursächlich zusammen.

Sogar personell. Versteckte sich nicht Lenin einst im finnischen Wald? Reiste er nicht durch Finnland nach Petersburg, um dort als Revolutionskatalysator zu wirken? Das finnisch-deutsche Performerteam (Minni Gråhn, Sannah Nedergård, Marcus Reinhardt, Mariel Jana Supka) lässt sich diese Episoden nicht entgehen und erzählt auf der letzten von insgesamt vier Stationen im Stile eines musikalisch begleiteten FDJ-Nachmittags von tapferen Eisenbahnern und helfenden Bauern.

Sogar das »Javala«-Lied über die Lokomotive 293, auf der der falsche Heizer Lenin nach Russland brauste, wird angestimmt. Und das Verrückte passiert: Es legt sich Seligkeit auf die Gesichter des Berliner Publikums anno 2017. Welche Sehnsuchtsdimensionen nach einer anderen Welt eröffnen sich da in unserer kalten Zeit des Neoliberalismus.

Angefacht wurde die Sehnsucht zuvor von einem Visionär. Heikki von Hertzen, jener Gewerkschaftsfunktionär, der nach dem Krieg Land kaufte, um nicht nur sozialen, sondern auch großzügigen Wohnungsbau zu ermöglichen, steigt als 104-jähriger Geist aus einem weißen Würfel. Er erzählt von Häusern, die für Menschen da sind und eben nicht für die Anhäufung von Geld. Er berichtet von Architekten, die ebenfalls vom Gedanken des Bauens für Menschen entflammt waren und noch nicht zu Dienern von Investoren herabgesunken.

Natürlich wird einem da das Herz warm im Gentrifizierungs-Berlin. Und man guckt genauer durchs Neue Kreuzberger Zentrum, diese Wohnmaschine. Und, tatsächlich, man fängt im Vorübergehen ein Lächeln auf von der türkischen Bäckerin im Erdgeschoss und fühlt sich für einen Moment geborgen in der Männergemeinschaft im Wettbüro auf der Empore. Es klappt doch mit den sozialen Anknüpfungspunkten. Das Grün, die Sporthalle, der Strand - all das fehlt freilich. Vor allem der Wald. Die grüne Wildnis und das enge Verhältnis zu ihr, zu Baum und Getier, ja selbst zu den Geistern, werden als finnischer Mentalitätspfeiler immer wieder beschworen.

Sogar ein hinreißendes Baum-Kommunikationssystem auf der eurasischen Platte von Turku bis Wladiwostok wird beschworen. Das alles gibt es hier nicht. Am Premierenabend holt einen schnell die traurige Realität am »Kotti« wieder ein. Ein Mann liegt bewegungslos auf dem Boden. Die Polizei sperrt ab, die Ambulanz stellt auch schon die Sirene an.

Es sind die Kontraste zwischen der Realität am »Kotti« und importierter Architektur- und Gesellschaftsutopie, die den Reiz dieses Abends ausmachen. Manche Längen hat er auch. Die Interviews der Bewohner sind redundant, dem Visionär von Hertzen hätte ein Lektor gutgetan, und nicht jeder Kindergeburtstagsfeier in Tapiola muss man per Video beiwohnen. Insgesamt aber doch ein charmantes Denkangebot über Bauen für Menschen statt Bauen für Geld.

Nächste Vorstellungen: 14., 15. und 16. November in der »Vierten Welt«, Kottbusser Tor/Im Neuen Zentrum Kreuzberg auf der Galerie

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