Die Weisheit der Heckenrosen

Sylvain Tesson hat Frankreich durchquert

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Wandern als Heilmittel und Flucht? Solche Motive verleihen wohl jedem Aufbruch Schwung, und ganz besonders dieser Durchquerung Frankreichs, von der Sylvain Tessons neues Buch erzählt. Bekannt geworden durch Reiseabenteuer aus russischen Weiten (»In den Wäldern Sibiriens. Tagebuch aus der Einsamkeit«), führt der Autor seine Leser diesmal auf einen Fußmarsch vom Mercantour an der französisch-italienischen Grenze bis zum Contentin in der Normandie. Dabei erlebt man die Natur oder das, was von ihr übrig geblieben ist.

Ein Rehabilitationsprogramm. Denn Tesson hat eben erst einen furchtbaren Sturz von einem acht Meter hohen Dach überstanden. Zudem steckt in ihm noch die trauer über den Tod seiner Mutter. Fachgerecht zusammengeflickt, die Wirbelsäule verschraubt, mit entstelltem Gesicht, halbiertem Geruchssinn und einseitig taub, macht er sich am Bahnhof von Tende auf den langen Weg. Es soll seine Rückkehr ins Leben werden. Auf versunkenen Wegen. Über Bergkämme, Hochplateaus, entlang der Ufer von Rhone, Loire und Indre.

Der wichtigste Begleiter und »Passierschein für unsere Träume« ist die Landkarte (Maßstab 1:25 000), mit der er sie aufspürt, jene uralten Verbindungen durch die hyperländlichen Räume (Verwaltungsjargon), auf denen sich früher Hirten, Händler, Vagabunden und Flüchtende fortbewegt haben. Mit dem uralten Netz ist manches andere im Zuge des »Strukturwandels« versunken, zur touristischen Attraktion verkommen oder fristet kümmerliches Nischendasein. Autobahnen durchziehen das Land, führen vorbei an verlassenen Dörfern, ignorieren die Zurückgebliebenen. »Die Landschaft war zum Dekor der Durchreise geworden.«

Bei Aurillac erleidet Tesson einen epileptischen Anfall. Aber der geschundene Körper regeneriert sich trotz des ernsten Rückschlags. Der Wanderer ergötzt sich an Pflanzen und Tieren, gewinnt seine Zuversicht zurück, stimmt nach langen Monaten wieder Lieder an, läuft sich gesund.

Tessons präzise Beobachtungen sind voller Trauer über Lebensräume, die jener Zweckrationalität geopfert wurden, die sich heute Fortschritt nennt, sowie über Menschen, die resigniert haben. »Unter der Globalisierung hatte sich der Markt als Frankenstein entpuppt ... Und das Landleben siechte dahin wie eine kranke, auf das Bett von Frankreich niedergeworfene Greisin.«

Lange Tagestouren bei jedem Wetter und das Biwak unter freiem Himmel gewähren Weitblick. Erkenntnisse finden ihren Niederschlag im Notizbuch. Natürlich gibt es keine Flucht aus der Bedrückung. Auch der Wanderer fällt nicht aus der Zeit. Nichts verdeutlicht dies schärfer als die Übungsflüge der Militärmaschinen am Mont Ventoux. Tesson stellt sich vor, dass sie mit ihren Infrarot-Bildsensoren seinen Körper hingestreckt am Boden sehen. Er hofft: »Ein Kerl, der eine Nacht unter dem Halbmond im Freien schläft, stellt für einen Helikopter bei Kampfübungen keinen Angreifer dar.«

Vielleicht erzeugt diese Unausweichlichkeit jene melancholische Stimmung, die ihn bis an die Klippen bei Omonville-la-Rogue trägt. Ihn tröstet die Weisheit der Hecken. »Sie trennten, ohne einzumauern, schlossen ab, ohne undurchsichtig zu machen, beschützten, ohne zurückzuweisen.« Die Weisheit des Wanderers gipfelt in der Erkenntnis, dass der Mensch sich nicht entziehen kann. Er muss sich seiner Zeitgenossenschaft gewachsen zeigen, gerade wenn er ins Leben zurückkehren durfte. Und dennoch gibt es Grund, sich mit dem Philosophen Giorgio Agamben zu beklagen: Wir wurden zu »dem folgsamsten und feigsten Gesellschaftskörper …, den es in der Menschheitsgeschichte je gab«.

Ein nachdenklich stimmendes, in der Misere ermutigendes Buch. Auswege gibt es immer. »Man musste sie suchen, es gab Zwischenräume.«

Sylvain Tesson: Auf versunkenen Wegen. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Albrecht Knaus Verlag, 192 S., geb., 20 €.’

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