Ende der Gemütlichkeit

Hannes Keune und Matthias Micus über die Rolle der Volksparteien nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen

  • Hannes Keune und Matthias Micus
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Scheitern der Jamaika-Sondierungen bringt nicht nur Angela Merkel und die CDU in Nöte. Auch die SPD hat nun ein Problem. Sie steht abermals vor einer Frage, deren Beantwortung sie durch den im Anschluss an die Bundestagswahlniederlage rasch verkündeten Gang in die Opposition zumindest aufzuschieben gedachte: Was tun?
Gänzlich unklar sind auch die politischen Verhältnisse in Deutschland insgesamt: Gehen die Unionsparteien das Wagnis einer Minderheitsregierung ein? Lässt sich die SPD doch noch in die staatspolitische Pflicht nehmen? Oder gibt es Neuwahlen – und wenn ja, was würden diese ändern, wenn die Stimmenanteile der Parlamentsparteien in etwa gleich bleiben sollten?

Die aktuelle Malaise verweist zum einen auf die Schwierigkeiten der Mehrheitsfindung und Regierungsbildung in Zeiten zunehmend ausdifferenzierter Parteiensysteme und somit zugleich auf die Kommodität der vergangenen Volksparteiendominanz. Sie zeigt zum anderen und im vermeintlichen Widerspruch hierzu, dass trotz allen volksparteilichen Schwunds unverändert gilt: Wenn die Volksparteien husten, bekommt die Bundesrepublik die Grippe.

Freilich sind die alten Erfolgskoalitionen beider Volksparteien zerbröselt. Der CDU gelingt die Integration ihrer liberalen, sozialkatholischen und konservativen Flügel schon länger nicht mehr, die Popularität Merkels kaschierte diese die christdemokratischen Fundamente unterminierende Entwicklung zwischenzeitlich bloß. Erst recht hat sich das Bündnis von Arbeiterschaft, Neuer Mitte und kritischer Jugend aufgelöst, das die Sozialdemokraten einst in der Ära von Willy Brandt stark gemacht hatte.

Nun haben es zweifellos die sozialen Großtrends der Individualisierung und Pluralisierung den Volksparteien massiv erschwert, unter ihren organisatorischen Dächern die Gesellschaft en miniature abzubilden. Sicherlich konnten die Volksparteien obendrein gute Gründe für ihre unisono als »Modernisierung« deklarierten jeweiligen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kursschwenks benennen. Doch vernachlässigte die Rigorosität des Modernisierungskurses das volksparteiliche Erfordernis der Balance von Moderne und Tradition.

Die Volksparteien waren auch in ihrem goldenen Zeitalter nur dann und insofern erfolgreich, als sie sich auf vor-volksparteiliche Ressourcen stützen konnten, auf traditionelle Quellen, auf unzeitgemäß erscheinendes überzeugungsgestütztes Charisma und gestrig anmutende weltanschauliche Überzeugungen. Die Krise der Volksparteien findet ihre Ursache heute eben darin, dass dieser Traditionsstoff versiegt ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es schlüssig, die Gründe für den jüngsten Wahlerfolg der SPD bei der niedersächsischen Landtagswahl in klaren Differenzen und fundamentalen Auseinandersetzungen zwischen den Volksparteien zu suchen, in einer dadurch motivierten und geeinten Partei sowie einem Spitzenkandidaten, der diesen Grundsatzstreit verkörperte, dadurch authentisch, ja: charismatisch wirkte.

Freilich waren diese Erfolgsfaktoren bei der Niedersachsenwahl weniger strategischer Planung, denn einem für die SPD letztlich glücklichen Zufall geschuldet, dem unvorhersehbaren Ereignis des Fraktionswechsels der Grünenabgeordneten Elke Twesten und seiner Begleitumstände. Erst dieser Affront durch den politischen Gegner rüttelte die Sozialdemokraten wach. Just die Art der Inszenierung von Twestens Übertritt zur CDU durch deren Fraktionsvorsitzenden Björn Thümler spitzte die Differenzen zwischen den Volksparteien symbolisch zu: Jetzt endlich avancierte der zuvor als nüchtern, unterkühlt, bürokratisch apostrophierte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zum emotionalen Wahlkämpfer.

Als Vorbild für eine bewusste Neuaufstellung der Volksparteien taugt Niedersachsen daher nur sehr bedingt. Die Frage bleibt, wie die Volksparteien in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft, deren einzelne Teile zudem nicht nur vielfältiger werden, sondern zuletzt auch spürbar auseinanderstrebten, die verschiedenen Lebensstile und Weltwahrnehmungen künftig zu verknüpfen vermögen. Für die Beantwortung dieser zentralen Frage hatte sich die SPD Zeit durch eine oppositionelle Atempause erhofft und die CDU eine Lösungsoption in der Bildung eines bürgertumverbindenden Jamaika-Bündnisses erblickt. Beides hat sich nun fürs Erste zerschlagen.

Hannes Keune und Matthias Micus arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

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