Hören wie der Mond aufgeht

Der renommierte Thüringer Märchen- und Sagenpreis »Ludwig Bechstein« geht in diesem Jahr an die Erzählerin Nazli Çevik Azazi

  • Doris Weilandt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn sie den Raum betritt, braucht es nur wenige Minuten, bis Kinder und Erwachsene die Realität vergessen und mit ihr in Welten eintauchen, die von wunderbaren Wesen bevölkert sind. Jeder hält den Atem an, wenn Nazli Çevik einen Weg beschreibt, der durch Wälder führt oder über orientalische Basare, von denen ein verführerischer Duft aufsteigt. Anschaulich lässt sie ihr Publikum miterleben, was in der Geschichte passiert. Ihre großen Augen beschreiben Hoffnung und Angst ihrer Protagonisten - oder einfach nur wie ein großer Mond aufgeht und die Szenerie in mildes Licht taucht. Am Freitag erhält Nazli Çevik im Theatermuseum Meiningen den Thüringer Märchen- und Sagenpreises »Ludwig Bechstein«.

»Sie tritt für die Geschichten ein, sie will eine innere Beziehung vermitteln«, sagt Kristin Wardetzky, die sich als Jurorin sehr für die engagierte Märchenerzählerin eingesetzt hat. Wardetzky wurde als Märchen- und Erzählforscherin sowie als Erzählerin vielfach ausgezeichnet. Als Professorin an der Universität der Künste Berlin (UdK) begegnete sie vor einigen Jahren der Türkin Nazli Çevik. Die Tierärztin war in die Stadt gekommen, um Theaterpädagogik zu studieren. Die begabte junge Frau lernte schnell und wollte mehr. Mit einem Stipendium belegte sie den von Wardetzky initiierten Kurs »Künstlerisches Erzählen - Storytelling in Art and Education«. Das war eine entscheidende Weichenstellung für Çeviks Leben. Sie war in Berlin bereits in mehrere Erzählprojekte involviert, darunter in der Sprachwoche, in der Kinderkunstakademie, im Theater Ballhaus Naunynstraße, bei TUSCH und anderen.

2013 ging sie nach Istanbul zurück und belebte dort die mündliche Kunst des Erzählens wieder, die auch aus diesem Kulturkreis weitestgehend verschwunden war. Zu den bedeutenden Projekten, die von ihr begründet wurden, gehört die nur aus Frauen bestehende Erzählgruppe »Famas Haus« und das Istanbuler Erzählzen-trum Seiba, das Workshops und Performances für Pädagogen anbietet. Mit »Erzähl Mir« und »Once Upon A Place« hat die Frauengruppe Kinder und Jugendliche bereits in mehreren europäischen Ländern angesprochen.

Nazli Çevik arbeitet mit Kulturmittlern und Künstlern, um die alten Geschichten wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung zu bringen. Die Ansprache ist direkt, der Kontakt zum Publikum unmittelbar und durch kein technisches Hilfsmittel verfremdet - da sind nur ihre Stimme, ihr Körper und ein Musiker, meist mit Percussion. Das Spektrum der Märchenerzählerin ist breit und umfasst traditionelle Geschichten aus Griechenland, der Türkei und Deutschland. Sie knüpft aber auch an die alte Orientbegeisterung hierzulande an, das Interesse für die arabische und die persische Sprache und die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Wardetzky schätzt die Aktivitäten ihrer ehemaligen Erzählschülerin, die sich durch Engagement und zahlreiche Auftritte auf Festivals in der Szene einen Namen gemacht hat. Es gab noch einen weiteren Grund, den Thüringer Märchenpreis an sie zu vergeben. »Erzählen ist eine hochpolitische Kunst«, sagt Wardetzky. Dass die Wahl auf Nazli Çeviks fiel, sei auch ein politisches Signal in Richtung Türkei.

Den Preis vergibt die Stadt Meiningen seit 2001. Um den Märchensammler und -erzähler Ludwig Bechstein zu ehren, der viele Jahre bis zu seinem Tod 1860 in der südthüringischen Stadt lebte, entstand die Idee, verdienstvolle Künstler, Illustratoren und Verleger auszuzeichnen.

»Das eine ist das Traditionelle. Das andere ist das freie Erzählen, das Narrative. Es geht immer um das Weitergeben«, erklärt Dana Kern, Fachbereichsleiterin Kultur der Stadt Meiningen. Deshalb veranstaltet Meiningen anlässlich der Preisverleihung am 24. November auf Schloss Elisabethenburg ein Märchensymposium mit Vorträgen und Workshops.

Die Verleihung des Märchen- und Sagenpreises »Ludwig Bechstein« an Nazli Çevik findet am 24. November ab 20 Uhr im Theatermuseum Meiningen statt.

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