• Berlin
  • Streit um Justizsenator Dirk Behrendt

»Kein schöner Jahresbeginn«

Der Justizsenator kämpft nach der Flucht von neun Häftlingen um sein Amt

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

Der ungemütliche Mittwochmorgen ist die passende Kulisse für den Termin, den Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee absolviert. Dutzende Journalisten sind erschienen, ein Nachrichtenkanal überträgt live. Denn nach neun sogenannten Entweichungen seit dem 28. Dezember steht der Senator unter großem Druck. Nicht nur die Opposition aus CDU, AfD und FDP fordert seinen Rücktritt, auch der SPD-Abgeordnete Joschka Langenbrinck äußerte sich auf Twitter in der Richtung. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) reagiert unterkühlt. »Der Justizsenator wird diesen Sachverhalt genau untersuchen. Wir erwarten im Senat seinen Bericht«, lässt er mitteilen.

Dirk Behrendt hat aber nicht in den geschlossenen Vollzug geladen, aus dem sich am 28. Dezember vier Gefangene mit Trennschleifer und Vorschlaghammer spektakulär den Weg in die Freiheit bahnten, sondern in den offenen Vollzug, aus dem seitdem fünf Inhaftierte abhanden kamen. Immerhin drei davon sind wieder zurück. Er möchte über den Unterschied der beiden Haftanstalten sprechen: dort, im geschlossenen Vollzug, hinter hohen Mauern und vergitterten Fenstern Menschen, die gemeinhin als Verbrecher bezeichnet werden. Hier, im offenen Vollzug, hingegen jene, die eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. Rund 37 Prozent der Insassen sind ohne Fahrschein erwischt worden, etwa 19 Prozent sitzen wegen Diebstahls ein, 17 Prozent wegen Betrugs. »Dissozialität« zeichne diese Klientel aus, sagt Anstaltsleiter Uwe Meyer-Odenwald: »Diese Menschen sind nicht in der Lage, ihr Leben in den Griff zu kriegen.« Behrendt ergänzt: »Wichtig ist, dass die Leute, die hier sind, vom Gericht nur zu einer Geldstrafe verurteilt worden sind.« Doch das ist irgendwie nicht das, was die Öffentlichkeit hören will.

Die Frage nach einem Rücktritt bewege ihn »derzeit nicht zentral«, sagt Behrendt. »Im Vordergrund steht jetzt die Aufklärung, was passiert ist.« Die Fluchten seien ihm »alles andere als völlig egal.« »Ich bedauere, wenn dieser Eindruck entstanden ist.« Alles in allem sei es »kein schöner Jahresbeginn« für ihn gewesen.

Es gibt auch Neuigkeiten zum Häftling Josef A., einem der vier, die am vergangenen Donnerstag aus dem geschlossenen Vollzug geflohen waren. Er hatte sich am Dienstag gestellt. Der »dickste Fisch« der Ausbrecher sei er gewesen, erklärt der Justizsenator. Er hätte noch bis 2020 einsitzen müssen wegen räuberischer Erpressung, die anderen drei wären im Laufe diesen Jahres regulär entlassen worden. »Der Rückkehrer wird in eine sicherere Anstalt verlegt werden. Ich weiß noch nicht, in welche«, sagt Behrendt.

Neben einer Kommission unter Vorsitz des Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten, Hans-Michael Borgas, wurde nach Angaben Behrendts auch eine Schwachstellenanalyse der Justizvollzugsanstalt Plötzensee durch ein Sicherheitsbüro in Dresden beauftragt, die noch im Januar beginnen soll. Davor habe das Büro bereits das Untersuchungsgefängnis Moabit untersucht.

Neben technischen Unzulänglichkeiten wie veralteten Schließsystemen und einer Kameraüberwachung, die nicht automatisiert Alarm auslöst, ist natürlich auch der Personalmangel ein Problem. Die Kräfte würden im geschlossenen Vollzug konzentriert, erklärt Meyer-Odenthal. Das erklärt vor allem die lückenhafte Bewachung im offenen Vollzug. »Wenn wir fünf Bedienstete für die Außensicherung eingesetzt hätten, hätten wir die meisten Entweichungen verhindern können«, sagt er. Etwa 200 Stellen im Vollzugsdienst seien unbesetzt, berichtet der Justizsenator. Das sei eine Entscheidung der Vorgängerregierung gewesen. »So denn alle derzeit in Ausbildung befindlichen bei uns bleiben, sollten Ende 2019 alle Stellen besetzt sein«, sagt Behrendt.

Die CDU ist unzufrieden. »Justizsenator Behrendt erkennt trotz der neun geflohenen Häftlinge in der JVA Plötzensee auch am heutigen Tage nicht den Ernst der Lage«, erklären Fraktionschef Florian Graf und Justizexperte Sven Rissmann. Am 10. Januar will die CDU die Fluchten im Rechtsausschuss zum Thema machen.

Ob er nicht mit zweierlei Maß messe, wollen Journalisten von Dirk Behrendt wissen. Schließlich habe er als Parlamentarier in der Opposition seinen Amtsvorgänger Thomas Heilmann (CDU) nach einem spektakulären Ausbruch 2014 scharf angegangen. »Sie werden keine Rücktrittsforderung damals von mir finden«, entgegnet Behrendt.

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