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Mediziner und ihr Anspruchsdenken

Vor Weihnachten hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Numerus clausus für das Studienfach Medizin befasst - warum eigentlich?

  • Tino Brömme
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwei Studierende haben geklagt und Recht bekommen: Die deutsche Sitte, Bewerber und Bewerberinnen fürs Medizinstudium nach ihrem Notendurchschnitt im Abitur auszusieben und das je nach Hochschule und Bundesland anhand unterschiedlicher Verfahren, ist nicht verfassungsgemäß. Dem Wortlaut nach ist es »teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar«. Seit dem Numerus-clausus-Urteil von 1972 haben die Verfassungsrichter sich mehr als 50 Mal mit dem Problem beschäftigt. Das Hauptübel, zu wenige Studienplätze, konnten sie erneut nicht beheben. Dabei hat die Studierendenvertretung fzs eben ein Rechtsgutachten vorgestellt, demzufolge schnell 500 zusätzliche Studienplätze geschaffen werden könnten. Dafür, so der fzs, wäre es ausreichend, die Lehrverpflichtungen unbefristet beschäftigter wissenschaftlicher Mitarbeiter an jene für Hochschullehrer anzupassen und in den medizinischen Fakultäten einige befristete in unbefristete Stellen umzuwandeln.

Für alle Medizinbereiche, also Human-, Zahn- und Tiermedizin zusammengerechnet, gibt es zurzeit 62.000 Bewerberinnen und Bewerber für 11.000 Ausbildungsplätze. Einst gab es mehr, aber nach massivem Druck der Ärztekammern, des Wissenschaftsrats und des damaligen Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer (CSU) reduzierten die Kultusminister der Länder in den 1990er Jahren mit Hinweis auf eine angeblich drohende Ärzteschwemme und damit verbundenen sinkenden Einkommen der Mediziner die Zahl der Studienplätze um 4000.

Ob in Deutschland heute Ärztemangel herrscht, ist nicht ausgemacht. In den Städten gibt es eine Überversorgung, auf dem Land einen Mangel. Es gibt mehr Mediziner denn je, Ende 2016 waren es knapp 380.000. Einer Studie der Ärztekammer von 2015 zufolge waren das 34.000 mehr »als vorgesehen« - es würde genügen, wenn etwa 1000 der Mediziner in eine unterversorgte Gegend umzögen.

Das sind Rechenspiele, die Realität ist wie immer komplizierter. Zu den interessantesten Faktoren gehört, dass immer mehr Frauen den Beruf ergreifen und viele von ihnen in Teilzeit arbeiten wollen, um Familie und Beruf vereinbaren zu können.

Diese Tatsache verweist auf eine Veränderung der Arbeitswelt, der die Diskussion über Ärzte allein nicht gerecht werden kann. Zum einen geht es um das Anspruchsdenken, von dem die Studienplatzbewerber nicht frei sind: Promovierte Ärzte sind die Spitzenverdiener der Spitzenverdiener mit einem durchschnittlichen Bruttojahresgehalt von 79.583 Euro, Chirurgen verdienen im Schnitt 103.000 Euro. Das Anspruchsdenken zeigt sich in der Wahl des Arbeitsbereiches: Immer weniger wollen Hausärzte werden, viele bevorzugen die besser bezahlten Stellen in Kliniken, am liebsten im Westen Deutschlands, wo die Gehälter um 30 Prozent höher als in den ostdeutschen Bundesländern sind. Und natürlich arbeiten viele lieber in der Großstadt als in irgendeinem Kaff. In München oder Freiburg gibt es laut AOK mehr als ein Drittel Hausärzte zu viel.

Das lässt an die charmant-makabren autobiografischen Erzählungen des Autors von »Der Meister und Margarita« denken, Michail Bulgakow. Nach seinem Studium in Moskau wurde er 1916 für ein Jahr in die tiefste Provinz verbannt, wo er im einzigen Krankenhaus weit und breit seine Sporen verdiente. In seinem Zeugnis heißt es: »211 Personen stationär und 15.361 Personen ambulant behandelt ... 1 Oberschenkelamputation, 3 Zehenamputationen, 18 Gebärmutterausschabungen, 4 Vorhautbeschneidungen, 2 Zangengeburten, 3 Wendungen auf dem Fuß, 1 manuelle Plazentalösung, 2 Atherom- und Lipomentfernungen, 1 Luftröhrenschnitt«, zudem Wundvernähungen, Öffnung von Abszessen, Abdominalpunktionen und mehr.

Das heißt, schon im vorrevolutionären Russland war das gesellschaftliche Wohl wichtiger als die Niederlassungsfreiheit der bestbezahlten Fachkräfte des Landes. Man sieht, die Einflussmöglichkeiten des Staates beschränken sich nicht auf Gesetzgebung und Studienplatzfinanzierung - Pflichtjahre auf dem Land sind geboten.

Die Deutschen sind nicht allein mit ihrem Problem. Auch in der Schweiz wird die Abschaffung des Numerus clausus in der Medizin diskutiert. Man wird ihn aber behalten, denn ohne ihn müssten über 2000 Bewerber mehr zugelassen werden, was jährlich 55 Millionen Franken (47 Millionen Euro) zusätzlich kosten würde.

Immerhin hat man die Studienplatzkapazitäten in der Humanmedizin erhöht, im vergangenen Jahr von 800 auf 1000. Allerdings ist auch die Anzahl der Bewerber von 3750 auf 4100 angestiegen. Was die Schweizer aber haben und wir nicht, ist ein einheitlicher Eignungstest, auf dessen Erfolg man sehr stolz ist: Über 90 Prozent der Studierenden schließen ihre Ausbildung auch ab. Dass die Maturanoten kein ausreichendes Auswahlkriterium sind, ist unterm Matterhorn unbestritten, man arbeitet stattdessen daran, den Eignungstest noch stärker auf die Praxis auszurichten.

Hier wie dort ist man sich bewusst: Die Nachfrage nach einem Medizinstudium steigt international an. Was kaum verwundert, denn bei den Göttern und Göttinnen in Weiß herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Bleibt die Frage nach der Chancengleichheit bei der Studienaufnahme. Das Auswahlverfahren ist nach dem aktuellen Urteil »teilweise« ungerecht: Ein Einserabitur ist in Hamburg leichter zu erreichen als in Bayern; die Ortspräferenz, also die Angabe, wo man studieren möchte, bewirkt eine willkürliche Vorauslese seitens der Universitäten, die alle ausschließen, die die eigene Uni nicht als erste genannt haben. Die Auswahlverfahren sind bundesweit nicht einheitlich. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll der Gesetzgeber nachbessern.

Was sich nach dem Urteil auch weiterhin nicht ändern wird, ist der Klassencharakter der Auswahl und dessen Ungerechtigkeit. Akademikerkinder, bestenfalls die, deren Eltern selbst Mediziner sind, haben nach wie vor die besten Chancen. Professoren der Medizinfakultäten können in den Auswahlgesprächen diejenigen, die nicht den richtigen Stallgeruch haben, aussortieren. Arbeiterkindern haben meist schlechtere Abiturnoten, obwohl sie viel härter dafür arbeiten müssen und potenziell weniger egoistisch erzogen werden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert daher einheitliche Aufnahmetests und -verfahren.

Soweit, den sozialen Hintergrund mit zu gewichten, ist man in der GEW noch nicht, geschweige denn, den Umbau der Arbeitswelt voranzutreiben. Eine komplexe Aufgabe, für die sich der Medizinbereich aber wie kein anderer eignet: Nachfrage und Verdienstmöglichkeiten sind so hoch, dass sich eine Umverteilung, die Teilzeitarbeit und Ansiedlung auf dem Land favorisiert, für alle lohnen würde.

Der Beginn wäre allerdings das Schwierigste: Die Ärzte müssten ihr Anspruchsdenken aufgeben, der Berufsstand müsste ein bisschen weiblicher werden, Mediziner müssten mit weniger zufrieden sein und nicht nur an sich, sondern auch an die Gemeinschaft denken.

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