Virus in der Wahlurne

Landesbühnen Sachsen Radebeul: »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« von Bertolt Brecht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Von unten auf: der plebejische Hoffnungsweg. Mehr Unten geht nicht: Arturo Ui entsteigt einer Mülltonne. Ein Dreckskerl eben. Viel Dreck, wenig Kerl. Geistige, soziale Unterbelichtung schürt den Traum vom Platz an der Sonne. Also: auf in die Finsternis!

Bertolt Brecht schrieb »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« 1941 im finnischen Exil. Ein clowneskes Gleichnis auf Hitlers Karriere. Geschäftskrisen im Blumenkohlhandel Chicagos werden zum Sinnbild für die verbrecherische Motorik des Faschismus: ein abgerissener Gangster als Retter - der die Erpressung zum Stabilisator einer gelenkten, gelinkten Demokratie erhebt, Gewalt zum Schutz umdefiniert und dem Volk allen Verstand aus den Hirnen zieht. Die Populismus-Parabel.

In einer von Comedy und Parodie durchwalkten Mediengesellschaft kann man das Stück möglicherweise gar nicht mehr spielen. Dem Witz klebt die Wahrheit an wie etwas inzwischen sehr Reizloses. Es sei, man spielt die Travestie gut. Radebeul spielt sie sehr gut. Sie? Ihn. Ein Ensemble muss beim »Ui« wissen: Es ist vorrangig der Rahmen einzig für den einen - der das Bild füllt, indem er krass und komisch aus dem Rahmen fällt. Und das Kabarettstück zum Kabinettstückchen erhebt. Ui! An den Landesbühnen Sachsen inszenierte Peter Kube (Ausstattung: Stefan Wiel).

Hier ist Michael Berndt-Cananá virtuos der schmierige, schmatzige, schwitzige, schäbige Straßenräuber. Dessen Schicksal sind die Zischlaute, sein Leiden ist der fehlende Gürtel ums rutschende Beinkleid, sein Antrieb ist nicht Energie schlechthin, sondern einzig der Kriech-Strom. Machtergreifung als Staatsschleich, gleichsam aus den Polstertiefen eines Sessels heraus. Als sei auch der noch die heimische Mülltonne. Die fiebrigen, spinnigen Finger: eine Dauerbewerbung bei Nosferatu. Verlegenheit simuliert Verwegenheit: Die Straffungen Uis sind gefährliche Ausfälle an Grenzen zur körpersprengenden Überdehnung. Wenn er auf Fußspitzen tänzelt, scheint er kontrollierend den Unterboden abzutasten: Ja, alles in Ordnung, die Geschichte feiert den Menschen - auf einer Pyramide von Schädeln.

Ein Schauspieler - Matthias Henkel in triefendster Gespreiztheit - bringt diesem Ui das Gehen, Stehen, Sitzen bei. Die Hitlerhaltungs-Hochschule. Der Phrasen-Parcours. Berndt-Cananá gekrümmt, verknotet, versteift - zwischen Popeye, dem Seemann, Egon Olsen und einem fehlgekneteten Otto Waalkes. Berauscht fortan von einer vokalsüchtigen, seltsam verstammelten, an Chaplins »Großen Diktator« erinnernden Artikulationsartistik - in die aber immer wieder der Rotz der Gosse hineinsuppt. Den er hochzieht oder in die Seitengasse spuckt.

Im Furor seiner Reden, die keinen Widerspruch dulden, flutscht dieser Ui bäuchlings über die Bühne, rutscht hinein ins Publikum, wo ein kritischer Händler einen Einwurf wagte (gleich wird sein Speicher brennen!) - bibbernd bittet der so waghalsige Ui dann einen Zuschauer, ihn beim Balancieren über die Stuhlreihen zu stützen.

Als sich ihm die Witwe eines nachbarstädtischen Magnaten, der im Annexionsdrang im Wege stand - Hitlers Österreich-Coup - auf den Schreibtisch legt, als seien ihre Beine die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich, da sucht Ui in Hose und Jackentaschen verzweifelt und vergeblich nach seiner Männlichkeit. Ein Stoßgebet allein macht’s ja nicht - er wird dem Weibe das Maul mit einer Banane stopfen. Um sich selber zu plustern, als sei nun alles Banane. Wie es Heiner Müller schrieb: »Die Misthaufen wachsen, die Hähne spreizen sich und hacken nach den Wolken.« Nach allen Wolken - aus denen am liebsten wohl auch der Himmel fallen würde, der sich sogar über solchem Auswurf wie den Uis wölben muss.

Die Inszenierung liebt blutrotes Scheinwerferlicht, sie ist ein Nebelwerfer. Eine Backsteinmauer spielt mit Hinterhof gleichsam Stampe. Choreografie taucht Uis Rumor und das seiner Gangster ins Schaumbad der Revue. Links ein Klavier, rechts ein Schreibtisch. Auf ihm, hinter ihm, unter ihm vollziehen sich beamtener Lug und juristischer Trug. Gesetz und Gier als gängigste Verkuppelung. Tom Hantschel als Dogsborough etwa (eine Übermalung Hindenburgs) zeigt stieren Hang zur Korruption und depperten Gutglauben in vordergründigste Vertuschungstechniken. Ui poliert sie zur Staatskultur hoch.

Ui säuft aus einer Blumenvase und hat kurzzeitig etwas Schwarz unter der Nase; einer Reporterin wird »Lügenpresse« nachgebrüllt; und in einer Rede sagt Ui, er habe als Frau vor zehn Jahren noch ohne Angst allein durch die Stadt gehen können. Dies Wenige genügt für konkrete historische wie heutige Anspielungen. Das Lachhafte dieses Ui hatte plötzlich auch etwas Weißes im Auge, das der Angst gehört und also jener psychischen Schädigung, an der alle leiden, die sich einer Mission hingeben.

Vielleicht schmiegt sich der Einzelne gern in die Masse, weil er unglücklich liebt? Vielleicht rauscht in den Manneskult hinein, wer seiner Scheu vor Frauen gewahr wird? Vielleicht sucht ausgerechnet der Beziehungsunfähigste sein Heil in besinnungsraubenden kollektiven Strukturen? Vielleicht stürzt der Mensch sich nicht wegen seines Mutes in den Kampf, sondern weil ihn seine Schwäche peinigt?

Ui hockt auf der Bühne, als sei er die politische Lösung. Er ist nicht die Lösung. Aber eine Lösung ist er - so wie Gewalt leider immer eine Lösung war. Und eine pervers laszive Lösung bleibt - dazwischen regelmäßig jene Zeit, die wir den Frieden nennen. In ständig wachsender Furcht vor bitterer Korrektur: ein bisschen Frieden vielleicht nur. Im zweiten Teil des Abends nehmen die Kasper-Koliken des Schundschlurfis ab - Ui wird in seinem kontrollierten Rasen, seinem wilden Innehalten, seinem durchdachten Vibrieren, seiner aggressiven Ungeduld und seinem kampfbereiten Lauern ein wirklich Gefährlicher. Nun im Anzug, im Trenchcoat, mit Krawatte und Hut. Der am Ende der Aufführung das Theater über den Zuschauerraum verlässt - ein Virus, der irgendwo und irgendwann in einer Wahlurne auf neuerliche Erweckung wartet: statt Wahl dann wohl mehr und mehr Urnen.

Wir leben in der »ungeborenen Freiheit« (Volker Braun), leichtfertig, als wäre sie Errungenes schon. Und so nehmen sich die gehärteten Verhältnisse die Freiheit, uns zu fesseln. Mit Hilfe der Uis, diesen so Aufhaltbaren wie freilich auch Haltbaren. Denn unsere Schmerzensschreie über die wahre Lage besetzen zwar alle Lüfte, ja, aber dazwischen feiern die Geschosse weiter ihren freien Flug.

Wir zerfetzen uns analytisch die Mäuler über die Kompliziertheit der Welt, zerfetzte Leiber aber sagen die einfache nackte Wahrheit. Man lügt uns medienweit die Taschen voll (wir lügen mit!), aber das genau ist der Reichtum der freien Meinung: im Angebot so unendlich viele Taschen.

Nächste Vorstellungen: 13., 26. Januar

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