Was aus den Utopien geworden ist

Marina Lewycka: In ihrem Roman »Lubetkins Erbe« würzt sie politischen Scharfsinn mit Klamauk

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch», «Caravan», «Das Leben kleben» «Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere» - wer die früheren Romane der britischen Autorin gelesen hat, wird auch den neuen nicht verpassen wollen. Und umgekehrt: «Lubetkins Erbe» mag Appetit machen auf alles, was Marina Lewycka geschrieben hat.

Unterhaltsamkeit mit Einfallsreichtum und schrägem Witz bis zum Klamauk zu steigern, dieses Talent haben andere auch. Nicht die einzige ist sie unter den Literaten, die eine Botschaft zu vermitteln hat. Aber was immer wieder bei dieser Schriftstellerin erstaunt, ist der politische Scharfsinn, den sie der - natürlich auch in Großbritannien allgegenwärtigen - Meinungsmaschinerie entgegensetzt. Das ist ihre Besonderheit: In eine turbulente Handlung en passant, mit leichter Hand, Wahrheiten einzuflechten, die manchen Leser erstaunen dürften, der bloß von den üblichen Nachrichten und Kommentaren lebt oder sich überhaupt nicht für Politik interessiert. Bewundernswert ihre Resistenz gegen jegliche Spielart neoliberaler Ideologie. Und ihr Lachen dabei.

Lewycka: Der Name klingt osteuropäisch. Tatsächlich wurde sie 1946 als Kind ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und ist in Großbritannien aufgewachsen. Ihr Vater war Ingenieur und arbeitete für eine Traktorenfabrik in Doncaster. Sie studierte an der Keele University und ist heute Dozentin für Medienwissenschaften an der Sheffield Hallam University. Ihre Studenten können sich freuen. Dass sie als eine der wichtigsten und populärsten britischen Autorinnen der Gegenwart gilt, heißt es im Klappentext. Aber von ihren Romanen, die wirklich das Zeug dazu hätten, wurde noch kein einziger verfilmt. Nie hätte sie zugestimmt, daraus zahnlose Komödien zu machen.

«Lubetkins Erbe»: Berthold Lubetkin (1901 - 1990) war als junger Architekt 1922 aus Russland emigriert und lebte ab 1931 in London. Nicht nur die modernistische Architektur hat er nach England gebracht, als überzeugter Sozialist verband er damit eine soziale Utopie: die Menschen aus den Elendsvierteln mit modernen Wohnungen zu versorgen, «die Solidarität schon in der Struktur des Gebäudes anzulegen».

Für den Wohnblock «Madeley Court», wo der Roman spielt, mag die Londoner Anlage «Bevin Court» Vorbild gewesen sein, die 1954 von Lubetkins Architektengruppe «Tecton» errichtet wurde - an jenem Ort übrigens, wo Lenin 1902/03 die Zeitung «Iskra» herausgab. Was ist aus den Utopien geworden? Unterschwellig lebt diese Frage im Roman und bringt einen beim Lesen auch in Zwiespalt.

Denn einerseits steht man aufseiten des arbeitslosen Schauspielers Berthold Sidebottom, der nach dem Tode seiner Mutter Lily Lukashenko deren weitläufige sonnendurchflutete Sozialwohnung behalten will. Andererseits: Was hätte Lubetkin dazu gesagt? Um der «Unterbelegungssteuer» zu entgehen, verfällt Berthold auf einen Trick. Mutters Bettnachbarin im Krankenhaus, die Ukrainerin Inna Alfandari, soll bei ihm einziehen und gegenüber dem Amt die Rolle der Mutter spielen. Wie sie dabei Demenz vortäuscht und sogar viel schlauer vorgeht, als es Berthold vermutete, sorgt beim Lesen immer wieder für Erheiterung. Eine Verwechslungskomödie, die im Roman auch reichlich ausgeschlachtet wird und, das sei vorweggenommen, für fast alle Beteiligten zu einem befriedigenden Ende führt.

Inna kocht «Golabki, Kolbaski, Slatki», charakterisiert in gebrochenem Englisch erstaunlich klug den Russland-Ukraine-Konflikt zwischen Europa und den USA, verdammt den «Netto-Expansionismus», wobei sie allerdings NATO meint, aber beides hängt ja auch irgendwie zusammen. Hin und wieder verschwindet sie in ihre eigene große Wohnung. Derweil hausen im Garten Familien mit kleinen Kindern in Zelten, werden natürlich von der Polizei verjagt, aber, wie es sich zeigt, beherrscht Inna ihre Sprache. Wir erfahren: Sie war mit einem rumänischen Juden verheiratet gewesen.

Menschen unterschiedlicher Herkunft kommen im Roman zusammen. Flüchtlinge, einstige und heutige Migranten - ein Oben und Unten gibt es auch zwischen ihnen. Und die ganz Reichen geraten ebenfalls in den Blick - durch Bertholds Nachbarin (natürlich verliebt er sich in sie), die junge schöne Violet, deren Großeltern noch in Nairobi leben und die glücklich ist, in einem international agierenden Versicherungskonzern als Trainee anfangen zu dürfen. Was sie dort alles erlebt und konkret erfährt über Praktiken der Bereicherung auf Kosten der Armen in dieser Welt, das hatte auch ich vorher so konkret noch nicht gewusst.

Lubetkins Erbe - was ist daraus geworden? Wie die alte Welt der sozialen Wohnraumutopien einer neuen Welt der Offshore-Konten und der rücksichtslosen Sparpolitik im eigenen Land gewichen ist, darüber hat die Autorin keine Illusionen. Dass Bildung für alle zu einer Revolution ohne Blutvergießen führen, der Sozialstaat die Klassenunterschiede allmählich verkleinern würde, diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Das war folgenreich. Was es an sozialem Vertrauen gab, ist in Resignation, Politikverdrossenheit umgeschlagen. Vereinzelung, Egoismus: Statt gemeinsam, solidarisch dagegen aufzubegehren, arrangiert man sich irgendwie privat mit dem System. Und wenn es doch mal zu Protesten kommt, dann meist nicht aus sozialer Verantwortung, sondern zur Verteidigung eng verstandener eigener Interessen.

«Gemeinsinn ist Leben» - Berthold, der hin und wieder Shakespeare zitiert, erinnert sich an den Spruch im Zimmer der Großmutter. Für Momente mag man meinen, er hätte sich erfüllt. Violet hat die Mieter von «Madeley Court» zusammengetrommelt, weil sie erfahren hat, dass der Kirschgarten vorm Haus abgeholzt werden soll. Ein Block mit Eigentumswohnungen soll an dieser Stelle entstehen. Unter dem Transparent «Rettet unsere Bäume» versammeln sich die Leute, und Lewycka läuft zu Hochform auf, während sie die Aktion beschreibt.

Protest als Karneval: Afrikaner, die trommeln, eine Gruppe junger Leute schlägt Tamburine, Violet trägt ein T-Shirt mit einem Massai-Schild, Berthold hat seinen Papagei Flossie mitgebracht, der kräht: «Rettet uns keiner!» Ein Stadtrat sagt durchs Megafon Unterstützung zu, was er natürlich nicht ernst meint.

«Spekulanten raus» - der alkoholkranke Mann im Rollstuhl, der dieses Plakat trägt, wird später tot in seiner Wohnung gefunden. Man hatte ihm den Strom abgestellt, und sein Insulin im Kühlschrank war unbrauchbar geworden.

Marina Lewycka: Lubetkins Erbe oder Von einem, der nicht auszog. Roman. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Deutscher Taschenbuch Verlag, 446 S., br., 16,90 €.

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