Angst essen Linke auf

Alban Werner über die vielen Linken, die sich in Zeiten von Sondierungsgesprächen eher innerparteilichem Streit hingeben als am Fortschritt zu arbeiten

  • Alban Werner, Aachen
  • Lesedauer: 15 Min.

Zu Beginn des Jahres 2018 sind Linke in verschiedenen Parteien nicht mit Potenzialen fortschrittlicher gesellschaftlicher Veränderung beschäftigt, die man in den Verhältnissen schlummern sieht, sondern vor allem mit ihrer eigenen Kannibalisierung. Sozialdemokratische Linke, Bewegungslinke und cäsaristische Linke zehren nur von der gesamtlinken Substanz, und diese wird währenddessen gewiss nicht größer.

Im Sog der Sondierung: Die sozialdemokratische Linke

Die SPD, vor allem aber die sozialdemokratische Linke leidet daran, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Meisterin der ›Triangulation‹ ist. Damit wird vor allem seit der Präsidentschaft Bill Clintons die politische Technik bezeichnet, sich geschickt so zwischen zwei Gruppen zu positionieren, dass eine davon sich nur noch um den Preis heftiger innerer und/oder äußerer Konflikte politisch bewegen kann. Im aktuellen Fall besteht das Dreieck aus Unionsparteien, SPD und der aufmerksamen Öffentlichkeit der Wählerinnen und Wähler, die bei einer möglichen vorgezogenen Neuwahl des Bundestages zum Zuge kämen.

Mit dem Ergebnis der Sondierungen hat die Union unter Merkel den öffentlichen Rechtfertigungsdruck im Zusammenhang mit einer Regierungsbildung komplett auf die SPD abgedrängt. Die SPD-Spitze kann mit dem vorliegenden Papier zwar hier und da kleinere sozialdemokratische Portiönchen vorweisen, so dass sie bei einem Nicht-Zustandekommen des »GroKöchens« im Auge der Wählerschaft den »schwarzen Peter« trägt. Allerdings profiliert sich die SPD damit im Auge ihrer eigenen, mehrfach gebeutelten Mitgliedschaft kaum noch als eine Kraft, die große soziale Verbesserungen durchsetzt. Die sozialdemokratische Funktionärsseele wird nur minimal gestreichelt.

Es gibt, zumindest was die Absichtserklärungen des Sondierungspapiers angeht, keine Verschlechterung für die Kernklientel von Union und SPD, mit der bedenkenswerten, gefährlichen Ausnahme des Arbeitszeitgesetzes, das »geöffnet« werden soll. Deutliche Verschlechterungen bzw. verhinderte Verbesserungen werden vielmehr den Geflüchteten zugemutet. Bis auf die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung (die die SPD immerhin selbst zu Gerhard Schröders Zeiten abgeschafft hatte!) wird sich nicht mit mächtigen Interessen angelegt.

Es werden der SPD im Sondierungsergebnis genügend symbolische und in begrenztem Umfang materielle Brocken hingeworfen, sodass die sozialdemokratische Führungsebene auf dem anstehenden Bundesparteitag von Erfolgen sprechen kann. Für die europäische Ebene verspricht das Sondierungsergebnis die Stärkung der wechselseitigen Solidarität, Bekämpfung von Steuerwettbewerb und Steuervermeidung, Sozialpakt, Finanztransaktionssteuer.

Merkel kann ohne allzu große Schmerzen diese Schritte in einem Sondierungspapier zusagen, weil sie wegen der hohen Konsenshürden im Konzert der EU-Politik allesamt wahrscheinlich aussichtslos sind. Weiterhin lockt die SPD zumindest optisch die Offensive zur Qualifizierung, Vermittlung und Reintegration von ca. 150.000 Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Sie geht allerdings einerseits an der Problemursache vorbei, weil ein Großteil der Arbeitslosigkeit nicht falschen Qualifikationsprofilen der Beschäftigten, sondern unzureichender Arbeitskraftnachfrage der privaten Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen geschuldet ist. Andererseits verträgt sich die versprochene Mittelaufstockung schlecht mit dem Ziel, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 0,3 Prozent zu senken.

Immerhin gibt es – zumindest auf dem Papier – ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut, mehr Nachdruck bei der Gleichstellungspolitik für Führungspositionen in Unternehmen (einschließlich gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und Männern in Leitungsfunktionen des öffentlichen Dienstes bis 2025), organisatorische und finanzielle Besserstellung der Sozial- und Pflegeberufe (einschließlich flächendeckender Anwendung von Tarifverträgen in der Altenpflege), mehr Unterstützung für Frauenhäuser, die Investitionsoffensive für Schulen, Rechtsanspruch auf Ganztagsschulbetreuung im Grundschulalter, Verbesserungen beim BaFöG, Altersvorsorgepflicht für Selbstständige, Refinanzierung von Tarifsteigerungen bei Krankenhäusern, Bau von 1,5 Millionen öffentlich geförderter Wohnungen sowie schließlich weitere Einschränkung von Rüstungsexporten.

Eine neue GroKo als Gelegenheit für linke Politik?

Insgesamt bewegt sich das Ergebnispapier der Sondierungen ziemlich genau in dem Gestaltungskorridor, der von wichtigen Kräfteverhältnissen organisierter Interessen eingerahmt wird und an den die deutsche Politik sich meistens gehalten hatte, wenn sie nicht etwa durch den Schwung des 68er Aufbruchs oder die neoliberale Offensive in den »Nuller-Jahren« deutlicher in die Ausweitung der politischen Konfliktzone verschoben wurde. Neue Abgrenzungen des Korridors markieren im Wesentlichen die Schuldenbremse und die »schwarze Null« sowie das europa- und außenpolitisch veränderte Umfeld.

An den bislang künstlich empörten und hilflosen Reaktionen von Linken inner- und außerhalb der SPD wird deutlich: Die Linke hat immer noch keine Antwort darauf gefunden, dass sie sich nicht mehr wie noch 2002 und in den Folgejahren, als DIE LINKE entstand, in einer Konstellation innerdeutscher neoliberaler Offensive befindet. Diese Offensive endete nach der Rente ab 67 (mit vereinzelten Nachläufern wie Merkels schwarz-gelbem Sparhaushalt für 2011). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der gesetzgeberische Gestaltungskorridor für fortschrittliche Politik allein dadurch größer würde, dass statt einer schwarz-roten Koalition eine wie auch immer geartete Minderheitsregierung der Union auf Bundesebene an den Schalthebeln sitzt. Man kann den JungsozialistInnen und anderen, die derzeit pausenlos gegen eine neue GroKo kämpfen, sicherlich Respekt zollen. Das sollte aber nicht davon ablenken, dass sie über die Ablehnung der Mitregierung hinaus für das weitere Vorgehen der SPD im Grunde auch kein Konzept haben.

Nicht auszuschließen ist weiterhin, dass Merkel noch ein paar Meter kompromissbereiter gegenüber der SPD ist, als es das Sondierungsergebnis abbildet. Bei Koalitionsverhandlungen könnte sie diesen Spielraum nutzen, damit die innerparteilichen Schwarz-Rot-Befürworter in der SPD genug vorweisen können, um die Regierungsvereinbarung über die 50 Prozent-Zustimmung ihrer Mitgliederbefragung zu hieven. Inhaltliche Kandidaten dafür wären z.B. die sachgrundlosen Befristungen, der Verzicht auf Öffnung des Arbeitszeitgesetzes, noch mehr Kohle für Bildung und Kommunen (Letzteres ist vor allem für die lokale SPD-Basis wichtig). Man kann damit rechnen, dass sich die Vorsitzenden von DGB und IG BCE und, falls der Öffnungsversuch beim Arbeitszeitgesetz fällt, auch die IG Metall beim SPD-Parteitag ein Stelldichein geben, um für einen Koalitionsvertrag zu werben.

Linke außerhalb der SPD täten gut daran, die Verhandlungsergebnisse als unzureichend zu kritisieren, sie aber zugleich (!) auch als Zeichen für die Durchsetzungsspielräume fortschrittlicher Politik im heutigen Deutschland zu lesen und zu überlegen, über welche Austragungsorte sozialer Konflikte, über welche Kanäle zur Verbreitung linker Politikentwürfe und über welche Begriffe, Symbole und alltagsmäßigen Anknüpfungspunkte diese Spielräume zu vergrößern wären. Sich nur denunziatorisch an der SPD abzuarbeiten ist ebenso leicht wie politisch nutzlos.

Denn Linke außerhalb der Sozialdemokratie müssen einsehen, dass sie derzeit nicht mal mehr als das wirken, was Jutta Ditfurth 2005 noch der LINKEN vorgeworfen hatte: eine »strategische Reserve« der SPD zu sein. Viele der angesprochenen Schritte aus dem Sondierungspapier von Schwarz-Rot würden die Nachfrage nach Arbeitskräften bei sozialen Dienstleistungen ausweiten und damit potentiell die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften stärken. Wenn der Koalitionsvertrag selbst also noch lange kein großer Sprung nach vorne für fortschrittliche Politik ist, so könnten Teile von ihm Hoffnungen und Erwartungen wecken, die durch kluge Politisierung von links aufgegriffen und radikalisiert werden könnten.

Auch können und sollten sich Linke die Ratlosigkeit unter den Regierungen zunutze machen, die anhand der Expertengremien deutlich werden, die eine mögliche neue GroKo beauftragen möchte. Nicht weniger als sechs Kommissionen sollen Bundesregierung und Bundestag zu Themen berichten wie Probleme der Integrationsfähigkeit, Fluchtursachen, Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sowie ›Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung‹. Sogar heiße Themen mit erheblichem Konfliktpotential wie die »Rentenkommission Verlässlicher Generationenvertrag« und eine Expertenkommission zu direkter Demokratie sind dabei. Dies sind Themen, bei denen die politische Linke Bodengewinne gut gebrauchen kann, wo sie also die Gelegenheit der zu erwartenden öffentlichen Debatten unbedingt aufgreifen und zu ihrem Vorteil zu verwandeln versuchen sollte.

Der kurze Traum einer neo-cäsaristischen Linken

Doch bislang ist dem nicht so. Die neue Lage erscheint ja ob rechnerisch rechter Mehrheit im Bundestag, sich sortierender AfD und knapp gescheiterter Landtagseinzüge in westdeutschen Bundesländern für DIE LINKE schwierig genug. Aber in solchen Situationen kann man sich immer darauf verlassen, dass aus den eigenen Reihen Initiativen entstehen, die von den wichtigen Problemen ablenken. In diese Kategorie muss der zuerst von Oskar Lafontaine geäußerte, jüngst von Sahra Wagenknecht aufgegriffene Vorschlag einer »linken Sammlungsbewegung« einsortiert werden. Beide irren nicht darin, dass DIE LINKE nicht alle BürgerInnen hat ansprechen können, die von der SPD enttäuscht waren. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass ein größerer Zuspruch von politischer Prominenz einer linken Politik förderlich wäre.

Tatsächlich leidet DIE LINKE bis heute daran, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern nur bedingte Abkehrbereitschaft gegenüber alten Parteien herrscht: Keine ehemaligen SPD-LandessprecherInnen und nur wenige bekannte GewerkschafterInnen schlossen sich der Partei an, so dass sie in diese Milieus weniger ausstrahlen konnte, als andernfalls möglich gewesen wäre. Der Hauptkritikpunkt am Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht berührt deswegen nicht, dass sie Prominente FÜR eine neue linke Volkspartei wollen, sondern dass ihnen etwas vorschwebt, das nur als eine Parteigefolgschaft VON Prominenten funktionieren soll. An diesem Verdacht kommt man nicht vorbei, wenn man einerseits den wenig interaktionsfreundlichen Führungsstil der beiden, andererseits das Vorbild ihres Vorschlages mitbedenkt.

Offenkundiges Vorbild von Lafontaines Vorschlag ist nämlich die bewegungsähnliche Partei französische Partei France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon. Allerdings ist deren Organisationstyp kaum auf die Verhältnisse der Bundesrepublik übertragbar, weil er auf völlig anderen Voraussetzungen im politischen System, in der politischen Kultur Frankreichs und auf Besonderheiten der politischen Konjunktur dieses Landes von Anfang 2017 beruht.

In Frankreich wird der mit weitreichenden politischen Kompetenzen ausgestattete Präsident - anders als in Deutschland - direkt gewählt, was auch Außenseiterkandidaturen erhebliche Aufmerksamkeit verschaffen kann. Im Nachbarland entfällt auch der für Deutschland charakteristische schlechte Ruf von Parteien links der Sozialdemokratie. Im Gegenteil ist die lokale und gewerkschaftliche Verankerung der antineoliberalen Linken in Frankreich durch ihre Hochburgen und die Prägung der Gewerkschaft CGT wahrscheinlich nach wie vor größer als in Deutschland. Schließlich war die Anfang 2017 allein regierende Sozialistische Partei Frankreichs noch weithin stärker diskreditiert als die SPD in der dritten Großen Koalition, so dass ein erheblich größerer Teil ihrer Wählerschaft durch Mélenchons AktivistInnen eingesammelt werden konnte.

Demgegenüber stellt sich die Lage der deutschen Sozialdemokratie 2018 deutlich anders da. Es sei jedem der Blick auf dem Facebook-Eintrag der SPD-Seite empfohlen, auf dem das Sondierungsergebnis zusammenfassend angekündigt wurde. Die Ablehnung des Sondierungspapiers in der schier unendlichen Reihe unzufriedener Diskussionsbeiträge speist sich keinesfalls nur aus linken Überzeugungen, sondern unübersehbar aus allgemeiner Enttäuschung, Wut und Frustration. Diese GroKo-Gegnerschaft ist viel zu heterogen, als dass eine neue Partei ihre TrägerInnen UND die Mitgliedschaft der LINKEN auf Inhalte begründet handlungsmächtig zusammenbringen könnte. Die einzige Methode, einen so bunten Haufen zu führen, wäre tatsächlich durch weitgehende Steuerung von oben durch eine Führungsfigur, die von ihren AnhängerInnen charismatisch verehrt und deswegen großzügig mit politischem Spielraum betraut wird.

Dabei würden vermutlich sozialen Medien eine wichtige Rolle spielen. Man hört zwar häufiger Einschätzungen über deren demokratisierende Wirkungen. Doch Facebook, Twitter & Co. können durchaus auch weniger demokratische Formen begründen. Sie ermöglichen nämlich, was im Fachchinesisch als »Disintermediation« bezeichnet wird, d.h. die Umgehung von Zwischeninstanzen. Gemeint ist, dass Führungspersönlichkeiten dank sozialer Medien direkt zu ihrer Anhängerschaft sprechen und ihnen Deutungen und Handlungsanweisungen zukommen lassen können. Dadurch wird der mittlere Funktionärskörper entmachtet, der in Parteien zwar immer auch für ein gewisses Trägheitsmoment sorgt, ohne den aber keine innerparteiliche Demokratie funktionieren kann.

Denn politische Vorhaben können immer nur in überschaubaren Gremien anhand konkreter Vorlagen sachgerecht vorgestellt, verändert und verabschiedet werden. Können die Parteivorsitzenden direkt zur Masse ihrer Anhängerschaft sprechen, finden sich die Funktionäre auf ein rein ausführendes Organ reduziert. In Deutschland aber würde dies auf Dauer nicht gutgehen, vielmehr wären Chaos und Zusammenbruch programmiert. Denn das deutsche Parteiengesetz erlaubt nicht, dass z. B. KandidatInnenlisten auf Geheiß des Vorsitzenden besetzt werden, sondern hier bleiben die Aufstellungsversammlungen in den Landesverbänden der Souverän.

Ohne eine handlungsfähige Zwischenebene an FunktionärInnen droht in dieser kritischen Lage ein Fegefeuer chaotischer Konkurrenz, wie bei PIRATEN und später bei der AfD zu beobachten war. In einer neo-cäsaristischen Partei entfielen die ordnenden Wirkungen, die parteiinterne Strömungen und sogar Karrierenetzwerke bei der Vorauswahl von KandidatInnen haben. Schließlich sind derart geführte Parteien immer stark zerfallsanfällig. Mit dem kompetenten Funktionärskörper entfällt auch eine soziale Trägerschaft, die den Laden nach Ausfall der charismatischen Führungsperson noch zusammenhalten könnte.

Ein Echo, das sich ewig wiederholt: Die Bewegungslinke

Unter anderem gegen den Vorstoß von Wagenknecht und Lafontaine gerichtet ist der Aufruf der »Bewegungslinken«. Zwar nennt der Text nicht die Kritisierten beim Namen, die Adressaten sind aber klar erkennbar, wenn es dort heißt: »Ein medialer Wahlverein kann keine Alternative zu einer pluralen und demokratisch verfassten Partei sein, die verschiedene Milieus verbindet und in realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verankert ist.«

Allerdings ist der Aufruf im Hinblick auf die verfahrene Situation der politischen Linken nicht weniger unbefriedigend als der Vorstoß aus dem Saarland. Zur Analyse der Situation trägt der Text der Bewegungslinken nichts bei, sondern wiederholt entweder nur steril bekannte Bekenntnisse, die niemand ernsthaft in Frage stellt, oder versucht den Argumenten aus der innerparteilichen Debatte der LINKEN durch deren Karikatur auszuweichen. Niemand innerhalb der LINKEN bestreitet ernsthaft die Dringlichkeit des Kampfes gegen Klimawandel oder Rechtspopulismus oder die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

In Bezug auf die migrationspolitische Debatte in der Partei wird im Aufruf allerdings ein Pappkamerad aufgebaut, wenn es dort heißt: »Wir sind für offene Grenzen und bekennen uns zu den dazu im Parteiprogramm formulierten Grundlagen. Eine Migrationspolitik, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als ›nützlich‹ oder ›unnütz‹ gelten, lehnen wir ab. Wir stemmen uns gegen alle Abschiebungen und wollen volle Bewegungsfreiheit und gleiche soziale und politische Teilhabe für alle in Deutschland lebenden Menschen.« Aber niemand in der LINKEN möchte die Migrationspolitik von den Nützlichkeitserwägungen des Kapitals abhängig machen. Dreh- und Angelpunkt der linken Zuwanderungsdebatte ist die Frage, wie sich Zuwanderung auf Ökonomie, Verteilung, Arbeit und politische Kräfteverhältnisse im Aufnahmeland auswirkt. Die politische Linke sollte Zuwanderung in einem Umfang und in einer Zusammensetzung unterstützen, die ihre Gleichheits- bzw. Ungleichheitsverringerungs-Ziele unterstützt und nicht konterkariert.

Hier ist das Sondierungspapier von Schwarz-Rot ehrlicher als die Bewegungslinke, weil es immerhin das Konfliktpotential benennt: »Wir sind uns darüber einig, dass die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht überfordert werden darf. Integrationsfähigkeit bemisst sich dabei nicht nur daran, wie die Aufnahme und Integration zugewanderter Menschen in die Gesellschaft gelingt, vielmehr beinhaltet sie auch unseren Anspruch, die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen gerade angesichts der zu bewältigenden Zuwanderung zu berücksichtigen (Versorgung mit Kita-Plätzen, Schulen, Wohnungen etc.).«

Während das schwarz-rote Sondierungspapier Maßnahmen zur Reduzierung der Ungleichheit in der Primär- und Sekundärverteilung ausspart und angesichts des eigenen Unvermögens eine Ungleichheit noch verschärfende Migration bremsen möchte, scheinen die Bewegungslinken das Spannungsfeld von Einwanderung und sozialer Ungleichheit schlechthin ignorieren zu wollen.

Unbemerkt teilen auch manche Bewegungslinke die Einschätzung, dass Migration in Widerspruch zur Verringerung von Ungleichheit geraten kann. In Diskussionen verweisen sie immer darauf, dass die Knappheit von Arbeitsplätzen, Wohnraum und sozialstaatlichen Ressourcen nicht durch Migration entstanden sei. Damit ist aber eingestanden, dass Migration eben dort Konkurrenzen verschärfen kann, wo keine Politik durchsetzbar ist, die die angesprochenen Knappheiten merklich mindert. Das Verhandlungsergebnis der GroKo-Sondierungen zeigt allerdings, dass eben eine solche Politik in Deutschland aktuell nicht durchsetzbar ist.

Der heimliche Liberalismus auf der Linken

Aus linken Positionen in der Einwanderungsdebatte wie der oben kritisierten wird ein uneingestandener Liberalismus deutlich. Bekennende Wirtschaftsliberale glauben ausdrücklich daran, dass es der Markt schon richten wird. Deswegen sind sie gegen Regulierung und Interventionen wirtschaftlicher Einheiten (außer natürlich, wenn es ihrer Klientel nützt). Doch auch manche Linke glauben uneingestanden, dass es der Markt schon richte. Sonst würden sie nicht so überdeutlich häufiger über die Umverteilung von Einkommen reden als über deren Erwirtschaftung. Diese Linken meinen uneingestanden, immer schon voraussetzen zu können, dass das, was sie verteilen wollen, auf jeden Fall auch erwirtschaftet wird.

Dieses Gesellschaftsverständnis wird auf die Migrationsfrage übertragen, weil einfach davon ausgegangen wird, dass sich Neuankömmlinge in einer Weise in die aufnehmende Gesellschaft sortieren werden, die keine neuen Konflikte schürt und keine bestehenden verschärft. Wenn man aber nicht möchte, dass sich durch Zuwanderung die Konkurrenz um Anteile an den Früchten der Wertschöpfung verschärft, müssen ihr Umfang und ihre Zusammensetzung steuerbar sein, wovon selbstverständlich die humanitären Verpflichtungen gegenüber Geflüchteten auszunehmen sind. Durch die Brille linker Grundsätze gesehen ist es vollkommen widersinnig, Finanz-, Waren-, und Arbeitsmärkte regulieren zu wollen, von diesem Anspruch aber Zuwanderung auszunehmen.

Hieran zeigt sich mehr denn je, wie dringend eine ökonomische Alphabetisierung der Linken nach über drei Jahrzehnten Siegeszug neoklassischer Ökonomie und Entpolitisierung wirklich ist. Nur wenn die Linke hier über solide Konzepte verfügt, die sie in der Öffentlichkeit verteidigen kann, wird sie genug festen Grund unter den Füßen haben für die viel wahrscheinlich viel zähere und schwierigere andere Seite der Auseinandersetzung um Zuwanderung.

Denn Teile der Wählerinnen und Wähler der AfD stimmen für diese Partei nicht, weil sie deren (ziemlich magerer) wirtschafts-, finanz- und arbeitsmarktpolitischer Programmatik zustimmen, sondern vielmehr, weil sie sich von den Eliten und massenmedial dominanteren sozialen Milieus in ihrer gesellschaftlichen Wertschätzung vernachlässigt fühlen. Dass sich radikal-rechtspopulistische Parteien in nahezu allen Ländern halten konnten, in denen sie bereits entstanden waren, sollte den Linken in allen Parteien Anlass sein, sich über die Erfahrungen fortschrittlicher Kräfte dieser Länder zu informieren und auszutauschen, um nicht anderswo bereits gegangene Fehler zu wiederholen. Einen Ausweg zu erarbeiten dürfte mit Sicherheit ausschließen, sich mit Bekenntnisformeln, wechselseitigen Denunziationen und Neugründungsdebatten an den Problemen vorbei mit sich selbst zu beschäftigen.

Alban Werner ist 1982 in Aachen geboren und war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen aktiv. Der Politikwissenschaftler schreibt u. a. in »Sozialismus« und »Das Argument«.

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