Verliebt ins rührende Misslingen

Zum 90. Geburtstag des Schauspielers Reimar Johannes Baur

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Man stelle sich das vor: Der bedeutende Wolfgang Langhoff, in den ersten Jahrzehnten der DDR Intendant des Deutschen Theaters Berlin, ist bereit, einen jungen Karl-Marx-Städter Schauspieler zu engagieren. Aber der lehnt ein Vorsprechen in der Hauptstadt ab. Pause. Schockstarre. Ein Eleve, der auf großer Bühne spielen soll - er spielt mit seiner Zukunft! Und was geschieht? Der düpierte Intendant fährt in die Provinz. Den will er sehen. So viel Selbstbewusstsein vor der Zeit. Oder: genau zur richtigen Zeit. So viel Frechheit gegenüber einer großen Chance.

Frechheit, Feigheit? Da wehrte sich ein junger Schauspieler gegen ein kaltes »Schnell-Gericht« über sein Talent (selbst wenn ein positives Urteil in Aussicht stand), und immerhin: Ein renommierter Theaterchef hatte sich daraufhin höchstpersönlich auf den Weg gemacht. Zweimal Charakter, der eine im Fernbleiben und der andere im Entgegenkommen, und die Welt scheint gut zu sein, wo beides zueinanderfindet.

Reimar Johannes Baur, der 1928 in Berlin geboren wurde, kam über Greiz, Cottbus, Karl-Marx-Stadt 1960 »auf ewig« ans Deutsche Theater - Langhoff war bei seinem Angebot geblieben. Baur wurde ein Glanz des Hauses, und bei vielen Gestalten, die er gab, hatte ich den Eindruck: Da steht ein Mensch, der will sich bemühen, seine Wunden zu lieben. Da fügt sich einer in die Welt, aber gefälligst mit allem, was das kostet. Er spielte, als bleibe jeder Gang vor an die Rampe doch auch ein Rückzug, verbunden nämlich mit der Frage: Bin ich wirklich am richtigen Ort hier? Nur seine Sanftheit, seine fragende Kindlichkeit waren weltüberwinderisch. Waren genial. So kommen die Sonderlinge ins Geschehen, jene, die beizeiten über sich erfahren, dass sie lebend doch nur komisch wirken - gibt es etwas, das trauriger ist?

Baur war über viele schöne Jahre der große, herzbewegende Traurige, war der immer scheue Kindskopf, dessen Figuren oft nur einen einzigen, eisernen, unglücklichen Instinkt hatten: zu verhindern, dass ihnen etwas gelingt. Viele seiner Rollen trugen wahrlich ein Selbstverhinderungsuhrwerk im Bauch. Ein König Vogelfrei, der Gitterstäbe sammelte für ein gesichertes Zuhause. Die Realität hat meist leichtes Spiel mit solchen Menschen. Die Realität vergisst sie aus reinen Effektivitätsgründen. So werden sie zu Unvergesslichen.

In Thomas Langhoffs Inszenierung »Onkel Wanja« gab er den verarmten Schmarotzer Telegin. Leise, nachdrücklich, ein tollpatschig Störender, ein rührendes, pockennarbiges Wesen auf einem kalten Schachbrett der verletzten oder nur gespielten Gefühle. Baurs Tschechow-Interpretation: der Wirklichkeit gleichsam entsterben, um dem Theater Leben zu geben. Um Baur herum lauerten die ernsteren, erschütternden Sphären, aber auch die grotesken, komischen, revoltierenden, patzigen. Er duckte sich mitunter vor sich selber, um dann hellstimmig loszuschlagen - aber gleichzeitig um Liebe förmlich zu betteln.

Ach, was war er alles! Molières erotischer Flaneur Don Juan, bei Besson, mit Rolf Ludwig als Sganarelle; dann der flinke Schnorrer Joxer Daly, dieser saufende Tragiker oder tragische Säufer in O’Caseys »Juno und der Pfau« - Adolf Dresens Meisterstück mit der Grube-Deister, mit Dieter Franke, Alexander Lang, Trude Bechmann. Dann: der gemütvoll-tapsige Gattenmörder Henry Fowle im »Pflichtmandat«, mit Jürgen Holtz, Regie: Ulrich Engelmann; auch der Iswall in Kants »Aula«, bei Uta Birnbaum, an der Seite von Dieter Mann; der Gloster in Solters »König Lear« mit Düren, Piontek, Grosse. Dieser Gloster: vom Trottel zum Tapferen, vom Plappersack zum Charakter. Und der berühmte Volksliederabend des DT, Baur musizierend auf seiner berühmten singenden Säge. War das nicht auch erst gestern? Nein, nichts war gestern. Alles ist lange, lange vorbei. Wir sagen zum Schauspieler nicht gern: lange vorbei, weil wir es zu uns selber nicht gern sagen. Aber andererseits ist tatsächlich vieles so lebendig, als wäre es heute.

Baur war ein Schauspieler, der Vokale schmeckte, der singend sprach und sprechend sang, der das Absonderliche geradezu als Melodie in den Seelen suchte, ja, herauskramte. Er ließ sich Zeit für seine Regungen, war kauzig, täppisch, nörglig, nuschlig. Mitleid wurde durch Witz gebrochen, und diese Figuren trieb eine irrwitzige Lust auf Unschuld um. Ein träumerischer Fremdkörper. Wenn er lachte, breit lachte, dann lächelten sogar die Finsternisse des Dramas kurz mit. Bei der DEFA spielte er den Johannes Kepler im gleichnamigen Film von Frank Vogel, und im Fernsehen war er mit Senta Berger »Er und Sie«, ein Frank-Beyer-Film.

Im wahren Sinne wesentlich fand ich seinen Apotheker Korbinius in Vera Loebners immer wieder neu zu rühmendem Adlershofer Zweiteiler »Späte Ankunft«, dem wunderbaren Film mit Kurt Böwe und Gudrun Ritter. Böwe: der Weg eines Stadtarztes zum Landarzt. Verlebendigung eines gelangweilten Bürgers. Und Baur als todkranker, aber gelassener Außenseiter. Bewegende Studie eines guten, treuen Menschen, der abseits aller Konventionen das stille, kleine Glück der Relativität genießt. Der eine kindliche Kraft hat, nicht dazugehören zu wollen - zu jener Dummheit, die den Ton angibt.

Schauspieler sind die Fleischmacher und Goldfinger des Theaters. Und gerade »Schauspieler« war just am Deutschen Theater immer schon ein majestätisches Wort. Es gab dort über die vielen Jahre, in denen Baur ein Mitprägender war, eine sehr spezielle Zärtlichkeit, Ruhe, Anspruchshärte. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Die Härte aber kam von den Regisseuren, die damit freilich auch nichts weniger als Zärtlichkeit ausdrückten. Gegenüber den Dichtern zuallererst. Reimar Johannes Baur war weich, Watte war er nie. Immer ganz funktionslos: kein Beweis, ein Mensch. Kein Erklärer, sondern Bauch-Redner und -Schweiger. Kopf und Seele hielten sich an den Händen, und die zitterten bis ins leiseste Wort. Sein Widerspruchsraum, seine Lebensschmerzwelt: zwischen tiefster Demut und hochfahrendster Revolte. Revolte? Das war die heitere Überzeugung: Demut ist steigerbar. Dieser so liebenswerte Schauspieler wird heute 90 Jahre alt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.