»Für alle Zeiten besudelt«

Angemerkt

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 2 Min.

»Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne! Man muß an den Menschen verzweifeln.« Dies schreibt Friedrich Kellner in sein Tagebuch. Er ist entsetzt, dass selbst klügere Zeitgenossen auf rechte Hetze hereinfallen. - Man könnte meinen, diese Beobachtung stammt aus unserer postfaktischen Wirklichkeit. Doch der Tagebuchschreiber war Justizinspektor in der hessischen Provinz zur NS-Zeit, der sich jedoch hartnäckig weigerte, der NSDAP beizutreten. Er hat die zitierten zwei Sätze am 26. September 1938 notiert. Verständlich, dass ein Mensch mit solcher Haltung von den Nazis misstrauisch beäugt wurde. Man wollte ihn in »Schutzhaft« nehmen, stellte jedoch fest, dass er »viel zu intelligent« sei, um seiner habhaft zu werden.

Bis zum Kriegsende füllte Kellner zehn Hefte mit Kommentaren, Notizen, Zeitungsausschnitten, darunter Todesanzeigen und Annoncen von Todesurteilen. Äußerst hellsichtig analysierte er die beschönigenden Heeresberichte. Das in zwei Bänden edierte Tagebuch ist ein außergewöhnliches Zeitdokument. Es offenbart, dass auch die Deutschen in der Provinz über die Verbrechen Bescheid wissen konnten. Kellner schreibt über »Euthanasie«-Morde wie auch von Massakern an russischen Kriegsgefangenen und den Juden im okkupierten Osten.

Unter dem Datum 28. Oktober 1941 heißt es: »Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den Gräben drangen oft noch Schreie!!« Und Ende 1941 heißt es bei ihm: »Die Nationalsozialisten sind stolz auf ihr Tierschutzgesetz. Aber die Drangsale, die sie den Juden angedeihen lassen, beweisen, daß sie die Juden schlechter als die Tiere gesetzlich behandeln. Diese grausame, niederträchtige, sadistische, über Jahre dauernde Unterdrückung mit dem Endziel Ausrottung ist der größte Schandfleck auf der Ehre Deutschlands. Diese Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können.«

Auch aus Kellners unmittelbarer Umgebung wurden jüdische Familien deportiert. Er wusste, was ihnen bevorstand: »Von gut unterrichteter Seite hörte ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-Formationen ermordet würden. Diese Grausamkeit ist furchtbar. Solche Schandtaten werden nie aus dem Buche der Menschheit getilgt werden können. Unsere Mörderregierung hat den Namen ›Deutschland‹ für alle Zeiten besudelt.« - Zeugnisse wie dieses im Wallstein-Verlag veröffentlichte Tagebuch aus den Jahren 1939 bis 1945 sollten gelesen werden. Leben wir doch wieder in einer Zeit vernebelter Hirne. Ernst Reuß

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal