»Dat brukt wi nich allens«

Wie die Hamburger Speicherstadt entstand - ein neuer Bildband zeigt den historischen Ort aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel

  • Britta Warda, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Zur Hamburger Speicherstadt ist schon viel geschrieben worden. Wurde nicht bereits alles gesagt über die stolzen Bauten, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören? Nein, denn der Theatermacher, Lichtkünstler und Autor Michael Batz betrachtet den historischen Ort aus einem ganz anderen Blickwinkel. Im Zentrum seiner ursprünglich für die Theaterbühne konzipierten Texte stehen die Firmen und Personen, die dort einst gewirkt haben.

Mit dem Beitritt Hamburgs zum Deutschen Zollverein 1888 - der Stadt wird ein Freihafen außerhalb des deutschen Zollgebietes zugestanden - ist das Schicksal der Bewohner des alten Kehrwieder-Wandrahm-Viertels besiegelt. Sie müssen dem Freihafen weichen. Senat und Bürgerschaft entscheiden sich für die »Niederlegung«, ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen. 448 Grundstücke werden mit »thunlichster Beschleunigung« geräumt, ohne dass es eine staatliche Vorsorge für den Verbleib der Betroffenen gibt.

Das erzeugt Hass. Der Oberingenieur und Projektleiter erhält einen Drohbrief: »An den Massenmörder Andreas Meyer! Es ist doch ein Skandal, dass Sie Lump, Schweinickel, (…) der 10 000 bis 12 000 Menschen geopfert hat, noch am Leben sind (…) Es lebe hoch das Dynamit.« Doch auch solche martialischen Drohungen nützen nichts, am Schluss zählt die Bau-Deputation 17 495 Personen, die »dislocirt« wurden.

Die Errichtung der neuen Bauten übernehmen die Firmen Philipp Holzmann & Co. und C. Vering. In Rekordzeit und innerhalb des Budgets entsteht der erste Abschnitt mit acht Speichern für sieben Millionen Mark, alles in der modernsten Ausstattung. 2000 Menschen arbeiten täglich auf der Baustelle. Die Unmengen an gebrannten Steinen kommen zum Teil aus dem Kehdinger Land. Dort werden fette Lehmweiden abgeziegelt; manch Bauer wird über Nacht zum Großverdiener. Der schnelle Reichtum macht einige irre. Ein Zeitgenosse berichtet: »Statt Kegel stellen sie Sektflaschen auf die Bahnen, streuen Goldstücke im Tanzsaal aus, und einer von ihnen verzehrt sogar einen Tausendmarkschein, auf ein Brötchen gelegt, fein zerschnitten.«

Zur feierlichen Eröffnung des Freihafens am 29. Oktober 1888 durch Kaiser Wilhelm II. staunen die Massen. Überwältigend mächtig, unvergleichlich gotisch, schmiedeeisern und zugleich technisch neu präsentieren sich die geschaffenen Bauten. Manch einer schüttelt den Kopf: »Dat is veel to groot, dat brukt wi nich allens.«

Speicherböden vom Feinsten: frostfrei und durchlüftet - nie unter null, nie über 20 Grad, elektrische Beleuchtung, moderne Zentralheizung. Ein Paradies für sensible Güter. »So gut wie hier ein Sack Kakao wohnt drüben im Gängeviertel kein Mensch«, preist der Kastellan - ein Beamter der Hamburger Freihafen-Lagerhaus-Gesellschaft - die Vorzüge der modernen Stätte an, um Mietinteressenten zu überzeugen.

Zur Rekrutierung der dringend benötigten Zollanwärter ist die Eignungsprüfung kurz und pragmatisch. Für die Dienstausübung wichtig ist, »dass sie mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut sind und der plattdeutschen Mundart nicht hilflos gegenüberstehen«. Worauf - außer auf Beutel und Taschen - ist besonders zu achten? »Verstecke: dicke Bäuche, fette Ärsche, steife Arme, hohe Hüte!«

Batz hat über 20 Jahre zeitgenössische Quellen, Bilder und Lebenserinnerungen zusammengetragen. Ihm ist es gelungen, in seinem reich illustrierten Werk ein lebendiges Panorama der vergangenen Zeit auferstehen zu lassen, einer mit dem Beginn der Containerschifffahrt untergegangenen Welt.

Michael Batz: »Speicherstadt Story: Geschichten von Menschen und Handel« Hamburg 2017, Koehler Verlag, 288 Seiten, 29,95 Euro.

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