Willkommen in »Klein-Hollywood«

Musik von Puccini, Strawinsky, Steve Reich und Verdi im ehemaligen Stummfilmkino »Delphi«

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Altbau vornan in der Gustav-Adolf-Straße, gleich hinter der Weißenseer Spitze. Dort soll es sein. Von außen ist aber gar kein Kino zu sehen, man sieht stattdessen graue Mauern. Der Eingang ist so unscheinbar wie der zu den Nachbarhäusern. »Delphi« heißt das einstige Stummfilmkino. Woher kommt plötzlich dieses Unikum? Die Akademisten des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) spielten dort jüngst unter dem Dirigenten Steffen Tast Konzertmusik, zum Teil mit Filmen dazu.

Wenige Sätze zum Kino, dem wohl erstaunlichsten, das es in Berlin gibt. »Delphi« ist bald 100 Jahre alt. Es kam, ging und erstand wieder. Als der Stummfilm seit 1900 die Herzen von Millionen eroberte, schossen Filmtheater weltweit wie Pilze aus dem Boden. Weißensee mauserte sich damals sogar zur Filmstadt, genannt »Klein-Hollywood«. Noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs siedelten sich Filmstudios an. Sieben Premierenkinos entstanden um den Antonplatz herum, darunter das legendäre »Toni«, das »Rio« und das »Delphi«, die restlichen schlummern immer noch den Dornröschenschlaf.

Bis 1928 wurden an dem Ort Stummfilme aller Genres gedreht. Filmhistorisch bedeutende Spielfilme wie Joe Mays »Die Tragödie der Liebe« mit Marlene Dietrich und Fritz Langs »Das Cabinet des Dr. Caligari« entstanden hier. 1929 war dann Schluss damit. Die Weltwirtschaftskrise vernichtete nicht nur Millionen von Existenzen, sie vernichtete auch soeben entwickelte Grundlagen einer Industrie, die sich anschickte, über die Filmunterhaltung die Massen ruhigzustellen.

Die drei genannten Kinos nahmen nach Kriegsende 1945 ihren Betrieb wieder auf. Das »Delphi« schloss 1957 allerdings. Fortan diente das Kino als Wasch- und Lagerhalle. Bis es wieder eine Spielstätte wurde, mussten 60 Jahre vergehen. Seit 2016 entwickelt und sichert der Kulturverein »Per Aspera« das Projekt »Delphi«. Zum Programm gehören auch E-Musik-Konzerte mit und ohne Film. Das Schöne: Die alte Architektur des Kinos ist vollständig erhalten geblieben. Der Saal mit dem römischen Bühnenbogen und leicht knittriger Leinwand klingt hervorragend. Statt Sitzreihen laden Tische und Stühle zum Verweilen ein. Für Imbiss und Wein ist auch gesorgt.

Das Konzert bestritten die Akademisten, so heißen sie umgangssprachlich. Amtlich gehören sie der RSB-Orchesterakademie an. Durchweg junge Streicher, überwiegend Frauen. Die Akademie rekrutiert die Besten aus Streicherklassen internationaler Musikhochschulen. Von Mentoren betreut, können sich die Studenten derzeit auf 13 Plätze im Orchester bewerben. Die Konkurrenz ist hart. Dazu, sich ihr zu stellen, dienen Konzerte wie das im »Delphi«.

Neu ist: RSB-Konzerte finden hier fortan regelmäßig statt. Zu den Ideengebern gehört der 1965 geborene Steffen Tast, Sohn des berühmten, unterdes berenteten Soloflötisten des Orchesters der Komischen Oper Berlin, Werner Tast. Der saß unter den Zuhörern. Steffen Tast studierte Geige und spielte vornehmlich Gegenwartsmusik. Viele Jahre über war er dem Kammerensemble Neue Musik Berlin verbunden, als Spieler wie als Dirigent. Nun hilft er federführend, die Schar der jungen Akademisten zu entwickeln und damit sich selber. Er kreiert auch spezielle, noch nicht gehörte Programme. Der Kinoraum ist dafür sehr geeignet.

Den Abend leiteten merkwürdigerweise Puccinis »Crisantemi« ein. Ohne Filmbeigabe. Das Stück klingt, wie es heißt: blumig und zugleich wie eine Arie im Tempo largo aus dem eigenen Opernrepertoire. Die Spielerinnen und Spieler gaben sich redliche Mühe, über die Tonfälle des Einschlafstücks hinwegzuspielen. Eine völlig andere Welt eröffnet Verdis viersätziges Streichquartett e-moll, das hier in einer Fassung für Streichorchester überaus lebhaft und technisch gekonnt zur Wirkung kam. Aus dem »Scherzo. Fuga. Allegro assai mosso« am Schluss mit seinen verwegenen polyphonen Finten schaut der höchst mobile, gescheite, greise Falstaff heraus mit seinem Ruf: »Die ganze Welt ist nur ein Spaß.«

Dann das Experiment mit dem Concerto in B (»Baseler Concerto«) von Strawinsky. Das Werk erklang zweimal: erst ohne den, dann mit dem Film »Le Voyage dans la Lune« des Stummfilm-Avantgardisten Georges Méliés. Nötig war hier ein Simultanverfahren, denn der Stummfilm entstand 1902, die Musik erst 1927. Von der Leinwand flimmerte Science-Fiction der ersten Stunde. Vor das Auge trat die abenteuerliche Reise der fünf Herren mit den ulkigen Hüten und komischen Gewändern auf den Mond und wieder zurück auf die Erde. Ein Knall- und Fallspiel mit zerspringenden Mondmenschen und eckigen Verfolgungsszenen. Das Erstaunliche: Strawinskys Metren und Tonfälle passten über weite Strecken so damit zusammen, als wäre das Concerto für den Film komponiert worden.

Steve Reichs »Violin Phase« für vier Violinen mit dem Animationsfilm »Circle Phases« von Lara Faroqhi, eine Studie der Minimal Art, fiel demgegenüber substanziell weit ab, erhielt aber den meisten Beifall. Konzentriert gingen die vier Spieler mit dem über die Zeit minimal rhythmisch sich verschiebenden Gleichlauf um.

Am 2.2. wird im Stummfilmkino »Delphi« das Bühnenstück »Hunter-Tompsen-Musik« nach einem Text von Judith Hermann aufgeführt. Am 3.2. ist Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu« mit Live-Soundscape zu erleben.

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