Eine Kunst der Bauern und der Fischer

»Bella Italia« - eine außergewöhnliche Sammlung naiver Kunst in der Galerie Parterre in Prenzlauer Berg

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 5 Min.

Der aus Leipzig stammende Kunst- und Buchhändler Egon Hassbecker hatte eine Sammlung europäischer naiver Kunst zusammengetragen, die in einem eigenen Museum, dem Museum Haus Cajeth in Heidelberg, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Ein Teil der Sammlung - die italienischen naiven Künstler - wurde im vergangenen Jahr im Lindenau-Museum in Altenburg gezeigt und ist nun an die Berliner Galerie Parterre weitergereicht worden.

Es ist eine Kunst von Außenseitern, Einzelgängern, Autodidakten, sie verspricht »unzensierte« Bilder, da sie ohne Anweisung entstanden ist. Das intensive Bemühen der italienischen Naiven, ihre Erfahrungen so direkt wie möglich zu schildern, das festzuhalten, was sie selbst gesehen und erfahren haben, erschien ihnen wertvoller als alle professorale oder akademische Malerei. Es ist eine Kunst nicht nur der Städter, sondern auch der Bauern, der Fischer, von Bewohnern ländlicher Gebiete.

Was uns aber heute an ihren Werken so entzückt, ist ihre ungeheure Stilisierung. Auch wenn das gerade nicht in den Absichten dieser Maler lag. Denn ihre Visionen waren für sie absolut real. Jede Gestalt, jedes Gesicht, jeder Baum, jede Fassade waren genau proportioniert und greifbar. Jedes Detail des Lebens entfaltet sich mit objektiver Genauigkeit vor dem Auge des Betrachters. Diese geduldige Ernsthaftigkeit ging mit ihrer Vorliebe für das Exotische eine merkwürdige Verbindung ein. Für die naiven Maler war es wichtig, dass ihre wunderbaren Phantasie-Schauspiele wie erlebt und nicht wie erfunden aussahen.

Gerade die Klarheit ihrer Visionen erhöht noch das Zwingende, Traumartige ihrer Bilder. Es ist die Mutationsfähigkeit des Lebens - alles kann unter dem Druck einer drängenden, animalischen Vitalität eine andere Form annehmen - , die uns begeistert. Die Bilder stehen plötzlich vor uns, unvermittelt und ohne Zweideutigkeiten, ganz so, als wären sie »nach dem Leben gemalt«. Auf der einen Seite die genauen Details, die lebendig gewordenen Graffiti, die unbezähmbare, laichartige Vermehrung des Lebens. Auf der anderen Seite das Gefühl für einen unendlichen Raum, keine Angst einflößende Leere, sondern ein Reich des Möglichen, prägnant in ganz reinen, flächigen Farben gemalt.

Enrico Benassi hat, als Inhaber eines Stoffgeschäfts, 1958 zu malen begonnen, märchenhaft anmutende Stadtansichten - die Häuserfassaden gleichen byzantinischen Mosaiken - , bäuerliche Motive, romantische Bildszenen. Mit 80 war Giovanni Concettoni aus Argentinien nach Falerone in den Marken zurückgekehrt.

Seine religiösen Ansichten flossen mit seinen politischen zusammen: Jesus Christus war für ihn einer der ersten Sozialisten, er stellt ihn in eine Reihe mit Marx, Engels, Lenin und Ho Chi Minh. Die Gleichnisse aus dem Leben Christi oder jenem der Gottesmutter Maria stellte er dem Geschehen in der Tagespolitik gegenüber. Lange Erklärungen thematisieren seine Bilder, mit denen er auf seine Umwelt einwirken wollte. In seinen »Andachtsbildern« leben Byzantinismen weiter, werden das Heilige wie Profane suggestiv und bannend festgehalten wie auf orthodoxen Ikonen.

Krankheit - ein schlimmes Asthma - hinderte den Fischer Dino Daolio Duren, den Fluss Po weiter zu befahren. So begann er, von Erstickungsanfällen unterbrochen, ihn zu malen - immer wieder, in allen möglichen Varianten und Formaten. Er hat sich den geliebten Fluss, der sein Lebensmotiv wurde, in seine kleine Stube geholt.

Pietro Ghizzardi, der nie gelernt hatte, fließend zu lesen und zu schreiben, der aber Lautgedichte und ein großes Buch schrieb, das die Welt erklären sollte, verarbeitete für seine Malereien nur natürliche Materialien, die er auf Steinen zerstieß und zerrieb - , und mit Hilfe des »Zauberkrauts« Remsa, das ihm als Kind das Leben gerettet hatte, malte er seine Vögel, wilden Tiere, Heiligen und vor allem seine nackten Frauen - unbarmherzige Porträts, mit abweisenden, auch bösartigen Gesichtern, aber wippenden Brüsten, pathetische Ungeheuer, Ausgeburten seiner erotischen Phantasien. Sie muten wie eine ironische Antwort auf die Beauty-Girls der Modemagazine an. Verspottet von seiner ländlichen Umwelt, wurde er 1963 von Cesare Zavattini, Regisseur des italienischen Neorealismus, entdeckt, seine Arbeiten wurden ausgestellt, man drehte Filme über ihn und würdigte ihn als bedeutenden Künstler der »rohen Kunst«, der Art Brut. Er stellt die Ausnahme dar, die anderen sind arm und unbekannt geblieben.

Albino Menozzi ließ sich als junger Mann für den Straßenbau in Abessinien anwerben und wurde lange Zeit nach seiner Heimkehr von Malariaanfällen heimgesucht. In einem der Hospitäler, in denen er behandelt wurde, begann er zu malen, die ihm vertraute dörfliche Umwelt, die Arbeit in den Obstgärten und auf dem Felde, das Pferdefuhrwerk, das die Erträge der Arbeit zum Markt brachte, auch Erinnerungen an die Frau, mit der er nur wenige Tage verheiratet war.

Costante Pezzani dagegen war Seniorenheimbewohner in der norditalienischen Stadt Sabbioneta und hatte sich in einer verfallenen Klosterkapelle seine Malwerkstatt eingerichtet. Er malte mit Farbstiften auf Sperrholzabfälle, am liebsten Architekturfassaden seiner Renaissancestadt, Paläste und Kirchen mit ihren Säulen, Bögen, Giebeln, Toren und Türmen. Eine Attraktion ist sein mit einem Staubsaugermotor ausgestattetes Flugzeug, auf die Sperrholzflügel sind Gebäude gezeichnet, die man, würde das Flugzeug fliegen, unten auf der Erde erblicken könnte.

Die Darstellungen des Analphabeten Pellegrino Vignali aus der Gegend von Salvarano erinnern in ihrer zeichenhaften Verkürzung an alte Höhlen- und Felsenmalereien, während seine Holz- und Steinskulpturen historische Persönlichkeiten darstellen sollen. Seine Gestalten entstanden nicht nach vorgefasstem Plan, sondern aus einer Zweideutigkeit, die das Material und die Struktur der Oberfläche selbst provozieren und die er dann wie unbeabsichtigt aus der Textur herausschälte.

Der Begleitband zur Ausstellung, den das Museum Haus Cajeth Heidelberg gemeinsam mit dem Lindenau-Museum Altenburg herausbrachte, ist ein eindrucksvolles Bilder- und Lesebuch, das uns über die harten Lebensbedingungen dieser Maler-Poeten und deren Hinwendung zur Malerei aufklärt.

»Bella Italia. Das Museum Haus Cajeth Heidelberg zu Gast«, bis zum 1. April in der Galerie Parterre, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg

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