In der Waldeinsamkeit

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Jemand, der meine geheimen Wünsche besser kennt als ich, hatte mir zum Geburtstag ein Wochenende in der Waldeinsamkeit geschenkt: abends ganz allein mit der Regionalbahn ins Brandenburger Niemandsland fahren, in einem fernab des Örtchens gelegenen Seehotel absteigen, nachts durchschlafen, ohne dass die Kinder mich daran hindern könnten, tags darauf ohne Uhr durch den Winterniesel wandern und schweigen. Mein Nerv war getroffen.

Bevor es losgehen konnte, war der Freitag zu bewältigen, der seinen Namen zu Unrecht trägt: Stress vom Aufstehen bis zum Feierabend. Sobald sich am Ende des Tunnels, vorerst verschwommen, doch noch das Wochenende ausmachen ließ, suchte ich mir am Computer eine Bahnverbindung heraus, die mich und meinen frühmorgens gepackten Rucksack bald nordwärts aus der Stadt herausführen würde. Kurz nach halb sechs fuhr ich den Rechner herunter und machte mich auf den Weg.

Am trostlosen Bahnhof Lichtenberg versorgte ich mich mit einem Stück Laugengebäck und zwei Flaschen Bier. Der Zug kam pünktlich und war erstaunlich voll. Nach etwa einer Stunde stellte die digitale Anzeigetafel das baldige Erreichen meines Zielorts in Aussicht. Ich ging zur Tür, zückte mein Smartphone und gab die Adresse des Hotels in die Navi-App ein. Während ich auf das Display starrte, bemerkte ich, dass der Zug kurz anhielt, und gewahrte aus dem Augenwinkel vor den Fenstern vollkommene Dunkelheit. Dass es sich nicht um einen Halt auf freier Strecke gehandelt hatte, sondern um das fahrplanmäßige Erreichen meiner Einsiedelei, wurde mir erst bewusst, als wir längst wieder fuhren.

Der Fauxpas war zu verschmerzen. Nicht länger als vierzig Minuten musste ich auf dem mit AfD-Aufklebern tapezierten Bahnhof des nächstgelegenen Städtchens im Boom-Box-Gedröhn einer Gruppe ortsansässiger Jugendlicher auf den beinahe menschenleeren Zug in die Gegenrichtung warten. Nach dem Aussteigen - es war inzwischen weit nach acht - zückte ich mein Telefon und startete die Navigation: »Sie erreichen Ihr Ziel in vierzig Minuten.« Über menschenleeres Kopfsteinpflaster lief ich zwischen den Häusern des Dorfes entlang. Hinter einzelnen Fenstern war das Flackern von Fernsehern zu erahnen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis das Ende der spärlich vorhandenen Zivilisation erreicht war. Die freundliche Stimme aus meinem Telefon forderte mich zum Weiterlaufen auf. Und ich lief. Hinein in den Wald, von dem es heißt, es solle dort wieder Wölfe geben.

Meine Hoffnung, nach kurzer Zeit würde in der Ferne ein Licht wieder Orientierung verheißen, erfüllte sich nicht. Stattdessen wurde es mit jedem Schritt finsterer, und zu allem Überfluss setzte ein fieser Eisregen ein. Um den Weg nicht zu verlieren, lief ich gebückt mit ausgestrecktem Arm. Ohne den schwachen Schein des Handys hätte ich den Fuß vor Augen nicht gesehen. Der Akku wurde immer schwächer: »Sie erreichen Ihr Ziel in dreißig Minuten.« Nach einer halben Ewigkeit wies mich das Navi an, nach links abzubiegen. Aber links war nichts zu erkennen, das einem Weg geähnelt hätte. Nur einen Bach hörte ich rauschen. »Bitte schließen Sie ein Ladegerät an.« Den Weg zurück hätte ich gewiss nicht mehr gefunden. Ich hatte die Wahl, mich über Nacht im Dickicht einzurichten oder mich in dem eisigen Strom zu ertränken. Ich entschied mich zum Überqueren des unsichtbaren Gewässers.

Ich balancierte also über schneebedeckte, vom reißenden Wasser umspülte Geröllbrocken, deren nächster immer erst dann zu erahnen war, wenn ich auf dem einem zitternd Halt gefunden hatte. Es hätte mich nicht verwundert, beim nächsten Schrittversuch in einen Abgrund zu stürzen und dem wahnsinnigen Unterfangen auf diese Weise ein Ende zu bereiten.

Es kam aber besser: Das andere Ufer erwies sich als rettendes, von dem aus ein halbwegs befestigter Weg durch die Finsternis tatsächlich zu jenem See führte, an dem das Hotel gelegen ist. Zur Krönung meines Glückes traf ich dort einen Mann an, der just in diesem Augenblick als letzter Angestellter das Haus verlassen wollte, nun aber so gnädig war, mir rasch noch den Schlüssel des reservierten Zimmers auszuhändigen.

Was scherte es mich, dass die Gaststube geschlossen war und das riesige Haus vollkommen verwaist zu sein schien? Ich hatte mein Lichtenberger Laugengebäck, die zwei Flaschen gut gekühlten Biers, ein weiches Bett und endlich meine Ruhe.

Jemand, der meine geheimen Wünsche besser kennt als ich, hatte mir eine große Freude gemacht.

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