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Fünf Finger sind vier Finger

George Orwells »1984« am Nationaltheater Mannheim

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Reißwölfe knurren. Motorisch und steif, als seien sie bereits Roboter, füttern »Genossen« die fressgierigen Apparate links und rechts der Bühne mit Stapeln Papier - Literatur jener »Gedankenverbrecher«, die sich dem herrschenden, phrasengierigen »Neusprech« widersetzen. Die Handlanger der regierenden Partei von »Ozeanien« tragen Zellophan-Folien vorm Gesicht: Verwandlung von Antlitzen in Einheitsmasken. Das ist »1984«.

Georg Schmiedleitner hat eine Szenenfolge aus George Orwells Roman am Nationaltheater Mannheim inszeniert. Jagend, hart und düster. Er konzentriert sich auf Winston Smith, die Hauptgestalt des Buches, jenen anfangs Widerständigen, der heimlich Tagebuch schreibt, in verbotener wilder Liebe zu Julia seine Opposition lebt, aber schließlich auf eine Folter zusteuert, die ihn bricht - ihn, die Liebe und Julia. Celina Rongen gibt ihr geschmeidig wilde Körperlichkeit.

Die Bühne von Florian Parbs offenbart Welt als ein hohes, ein umnebeltes wie umschattetes oder in Gleißen getauchtes Drehkreuz mit zahlreichen Türen. Diffuser Ort zwischen Amtsfluren, Verstecknischen, Gefängnis. Durchgang von nirgends nach nirgends. Drangsalierungspersonal ist immer präsent. Kostümierter Schrecken: Menschengruppen als Rattenschwarm. Benjamin Pauquet als Winston - ein Typ zwischen Jürgen Klopp und dem Schauspieler Mark Waschke - gibt von Beginn an den verunsichert Würdebewussten, den verzweifelt Couragierten, der sich der allwaltenden Entseelung entgegenstellt. Noch. Besagte Verunsicherung weicht rasant: Verzweiflung obsiegt.

Orwell ist Zukunft? Vor allem ist es ein Blick auf Ursachen, warum es die Idee vom Sozialismus außerhalb des Geistes seiner Klosterbrüder und -schwestern weiterhin schwer haben wird. Diese befleckte Alternative. Dieses verkommene Ufer der Utopie. Das klebt und klebt. Der Große Bruder, der Große Führer - Stalin ist leider unsterblich wie Hitler. Er härtete den Kern des Leninismus: jene feurig betriebene Vergesellschaftung des Menschen. Aufklärung? Durchleuchtung. Lichte Zukunft? Schwarze Listen. Unser Zeichen sei die Sonne? Und der Verhör-Scheinwerfer! Begegnung mit einer Lehre - die vergraben gehört, damit eine neue Saat aufgehen kann?

Seinen Roman beendete Orwell 1948. Akut machen ihn die Gründe, warum er in der DDR lange verboten war. In einer grausamen, weil so innig intimen Folterszene hebt Michael Fuchs’ smarter, aasig kultivierter Verhörer seine Hand und fordert von Winston Smith, in den gezeigten vier Fingern die Wahrheit der Partei zu sehen: fünf Finger! Das gesellschaftsformende Prinzip: zwei mal zwei ist fünf.

So wurde die Mauer zum Schutzwall, die Blindheit zur Parteilichkeit, die Feigheit zur Einsicht, der Käfig zum Freigelände, das Grau zum »Sozialismus in den Farben der DDR«. Wer heute eine (berechtigt!) differenzierte Sicht auf den Osten fordert, der sollte seine ehrlich kritische Tonart stets auch danach befragen, ob darin die Erfahrungen der Opfer Platz haben. Für die in jedem, auch in jedem heutigen System ein Ausbildungsplatz für den ehrabschneidenden Schmerz offensteht. »Krieg ist Frieden - Freiheit ist Sklaverei - Unwissenheit ist Stärke«. So jagt es in Mannheim in großen Lettern über die Wände. Immer wieder. Die Umwandlung von Wahrheit in Lüge. Propaganda als Betäubung. Leises Säuseln oder ein harter Schlag gegen den Schädel.

»1984« erzählt von einer Diktatur. Also von klaren Fronten. Dass Orwells Werk derzeit an mehreren Bühnen gespielt wird, ist wohl dem Reiz geschuldet, es unmittelbar auf uns zu übertragen. Ja, Kontrolle, Programmierung sind Bestandteil zahlreicher sozialer und ökonomischer Transaktionen geworden. Das Vertrackte: Sie bringen dem Einzelnen bisweilen massive Vorteile auf sozialen »Wettbewerbsmärkten«, bei Konsum und Komfort. So befindet man sich zwar mitten in einem Spionagesystem, ist aber doch auch - befriedet. Gewiss, irgendwelche Personalchefs, Kreditgeber oder Krankenkassen mögen unsere Zukunft screenen, aber gemerkt haben wir das gerade heute nicht. Gestern auch nicht. Ist doch schön. Die Gefahr ist vielfach unsichtbar.

Google-Earth und Navigationssysteme zum Beispiel verschaffen jedem das Gefühl, auf privaten Feldherrenhügel Weltbeobachtung zu betreiben - darüber vergessen wir leicht, dass dieser angenehme Effekt nur das beiläufige Nebenprodukt ganz anderer Feldzüge sein könnte. Zu unseren Seelen führen inzwischen sehr verborgene Hintertreppen. Es hat uns Spielern bislang auf vielen Feldern Spaß gemacht, alles, was in der physischen Welt entsteht, auch in die virtuelle Welt zu projizieren. Bald könnte es soweit sein, dass Identität in der virtuellen Welt geschaffen und in der physischen Welt nur noch nach-erlebt wird. Mit klarem Auftrag für Effizienzkontrolle und Steuerung.

Der Mensch, der einst mit der Maschine spielte, ist Spielzeug der Maschine - und nennt’s noch immer Leben? »Blade Runner« ist der Fortsetzungsstoff, der Orwells Vision übersteigen könnte. Überwachung, ein Traditionshandwerk. Schon die Pariser Laternen zu Zeiten der französischen Königszeit sollten beleuchten, was die Menschen nachts umtrieb. Aufklärung: Schwester der Finsternis, die seit jeher auch den schnüffelnden Dunkelmännern gehört. Als die Französische Revolution ausbrach, wurden zuerst die Laternen gelöscht.

Winston Smith hockt in seiner Haut, in die sich die glühende Zigarette des Verhörenden drückte. Alles mag gewünscht werden, sagt diese bibbernde Kreatur in ihrer grauweißen Schmutzkleidung zwischen Knast und Klinik, alles!, aber bitte nur keine Befreiung von der Wahrheit: dass wir Unvollkommene bleiben. Liebe zum Menschen will immer auch Weltveränderung - aber diese Liebe möge anerkennen, das man alles, nur den Menschen selber nicht grundsätzlich ändern kann. Oder doch?

Am Ende sieht man Winston, Julia und all die anderen als einladend Willfährige über die Bühne tänzeln. Auf uns zu. Das Parteidiktat als Party. Die Leichtigkeit des Taktes wie eine Geheimform des Marschtritts. Alle Münder lächeln. Hier fand Verwandlung statt. Säuberung. Auferstehung forderte nicht das Leben, nur das Rückgrat. Tänzelst du eben ohne. Du könntest schreien vor so viel Einverständnis mit der Selbstaufgabe. Auch Winston schrie. Bevor er das Lächeln einschaltete. In jeder Wirklichkeit rumort eben das Mögliche - als Rettung oder Vernichtung; und solange Menschen leben, bleibt jede Situation offen. Offener Himmel oder offener Abgrund. Gestern glaubten wir, es genüge, all das Krude zu verachten, was der Mensch mit der Geschichte erreicht hat. Heute wissen wir: Es gilt mehr und mehr auch ein Misstrauen gegenüber dem, was er ersehnen könnte.

Nächste Vorstellungen: 20., 22. Februar

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