Podium, nicht Barrikade

Zum 80. Geburtstag des Regisseurs, Schauspielers und Autors Manfred Karge

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Natürlich, der Wolzow. Wir Älteren sind seitdem filmisch gewarnt: Wenn auf den Schulbänken der Athlet erwacht, wird ein Soldat geboren. »Die Abenteuer des Werner Holt«, eine DEFA-Film-Legende von Joachim Kunert - das waren die Abenteuer der Titelgestalt, gespielt von Klaus-Peter Thiele, gegen den besagten Wolzow. Den Manfred Karge unvergesslich zeichnete: faszinierend gefährlich, als Sinnbild eines Kameraden, eines Muster-Wehrmachts-Kraftburschen, rechtschaffen gnadenlos. Verhängnisvolles deutsches Reinheitsgebot.

Der Schauspieler Karge auf der Bühne: kühl, analytisch, ein hochreflektiertes Zeigen. Er lernte von Brecht, verlor sich aber nie in öffentlichkeitsgeilem Adeptentum - das betrifft auch sein Verhältnis zu Heiner Müller, den er mehrfach inszenierte. An der Volksbühne war er Bessons Hamlet, in Frankfurt am Main spielte er aufsehenerregend den Dreißiger in Alfred Kirchners »Weber«-Interpretation, und aus seinen Anfängen am Berliner Ensemble sind jene Brecht-Abende berühmt, die er gemeinsam mit Matthias Langhoff erfand: »Brotladen«, »Mahagonny«. Grandios heitere, schürfende Exerzitien schönster Denksucht.

Das Regie-Duo hatte sich in den 60er Jahren am BE gefunden, Helene Weigel sprach in Briefen von den »Kar-Hoffs«. Zwei, die für Furore sorgten. Frech, frei - also nur auf Zeit aushaltbar fürs Brecht-Konzil am Schiffbauerdamm. Aischylos’ »Sieben gegen Theben« wird nach dem Panzerangriff auf den Prager Frühling zum listigen, selbstredend geprügelten Gleichnis auf das Blutelend eines Bruderkrieges.

Wechsel zur Volksbühne: Die »Beatles vom Rosa-Luxemburg-Platz« wichen bedingungslos expressiv von traditionellen Klassiker-Sichten ab. Mit Schillers »Räubern« schufen sie einen Kult-Abend, der Westdeutschlands Studentenrevolte als provokantes Spiel von Freiheit und Rebellion in die vermauerte DDR holte. Es gab einen Beschluss des Berliner Stadtschulrates, Schüler seien möglichst abzuhalten von einem Besuch dieser Aufführung. »Als wir es endlich geschafft hatten, ein Gespräch mit der Behörde zu vereinbaren, drucksten die nur rum - am Ende kam der Einwand, Karl Moor würde mit Stiefeln ins Bett gehen: kein Vorbild für die Jugend. Das war deren Niveau!«

Unter Benno Bessons Intendanz war die Volksbühne Budenzauber, Pariser Montparnasse und Banlieue, war der Rosa-Luxemburg-Platz Jahrmarkt und DDR-Autorenspielplatz. Karge brillierte - wenn er nicht Regie führte - als Fließband-Spieler. Ein einziger Rausch in Kulissen und Kantine. Dann aber die entschiedene Abkehr von einer rigiden Kulturpolitik; was nervte, war »die sanktionierte Blockierung der Brecht-Rechte einerseits und der unterbundene Umgang mit Heiner Müllers neuen Stücken andererseits«. Das war sie, die neue, die sozialistische Tragödie: nicht mehr für etwas Zwingendes untergehen zu müssen, sondern in etwas Ersehntem nicht aufgehen zu dürfen.

Karge und Langhoff arbeiteten, seit Ende der 70er, im Westen, sie wurden mitbestimmender Teil des Bochumer Direktorats von Claus Peymann, fuhren allen bürgerlichen Sehnsüchten nach Katharsis grimmig und scharf in die Parade. Es klingt im Nachhinein wie ein vorweggenommener Aufstand gegen Praktiken des heutigen Jet-Set-Betriebes in der Kunst: Als sie in Hamburg an Kleists »Homburg« und Brechts »Fatzerfragment« arbeiteten, übernahmen sie auch die Ausstattung. Denn: Mit dem von Auftrag zu Auftrag (und von Kasse zu Kasse) hetzenden Star-Bühnenbildner Eric Wonder wollten sie sich nicht bloß immer am Flughafen treffen.

Nach einem Vierteljahrhundert die Trennung - Langhoff drängte es für immer in den romanischen Raum, Karge sagt: »Ich bin Brandenburger Preuße«. Er inszenierte in der Schweiz, in Frankreich, Großbritannien - vor allem am Burgtheater Wien, wieder bei Peymann. Und bei ihm auch erneut am Berliner Ensemble, lange nach den alten Zeiten, am Tatort seiner Jugend. Inszenierte mit Gelassenheit und Überlegtheit: »Die Bühne ist ein Podium, keine Barrikade.« Der Drehbuchautor Thomas Knauf schrieb vor Jahren: »Hier schwimmt der Spätheimkehrer etwas lustlos wie ein Haifisch ohne Zähne, aber niemals gesichtslos oder unsichtbar, im grellbunten Spielplan der Wiener Sezession.«

Gemeinsam mit dem Dramaturgen Heinrich Wündrich gelang Karge wie einem, der nichts mehr beweisen muss, eine innige, sorgsame, vielbesuchte Lese-Reihe vergessener oder verbotener DDR-Dramatik, ein Kleinod von Erinnerung und Erneuerung. Und er spielte. Großartig sein Fleischkönig Pierpont Mauler in Peymanns Brecht-Inszenierung »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«: der Kapitalist, das zweigeteilte Wesen. Karge zeigte humane Regung als regelmäßigen Auftakt nur immer neuer brutaler Geschäftsschläge. Dieser Mauler fraß auch Kreide, als seien es Steaks.

Nicht zu vergessen: der Autor Karge. Er schreibt Dramatik, die Brechts Lehrspieltechnik verbindet mit Groteske, Farce und parodistischer Poesie. In »Mauer-Stücke« heißt es: »Mein Gott, dies Theater kurz vor unserm End/ Nun da uns stürzend die Zeit überrennt.« Wer den Weißhaarigen heute seine Wege gehen sieht, sieht meist einen Schweigenden, Bedachtsamen, Versunkenen. Groß, stämmig noch immer. Was wie gefestigte Erfahrung wirkt, ist freilich immer auch Gebrochenheit. Und listiger Untergrund: Als sähe einer die Welt und wüsste, es gibt noch eine Welt woanders. Zeitgenossenschaft: nicht das, was um uns ist, sondern in uns. Reichtum. Nicht übertragbar. Im besten Falle spielbar, erzählbar. An diesem Donnerstag wird Manfred Karge 80 Jahre alt.

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