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Kann Allgemeinbildung nützlich sein?

Über den Sinn einer Doppelqualifikation.

  • Karl-Heinz Heinemann
  • Lesedauer: 6 Min.

Linke Bildungspolitik sieht heute sehr unterschiedlich, ja, disparat aus. Da wehren sich vor allem linke Erziehungswissenschaftlerinnen gegen die Ökonomisierung von Bildung. PISA, VERA, QUIMMS und wie die vielen Vergleichstests heißen, und neue Steuerungsmodelle für Schulen und Hochschulen, am Leitbild des Unternehmens orientiert, sind deren augenfälliger Ausdruck. In den Hochschulen ist es der Bolognaprozess mit seinen bürokratischen Zumutungen, die, wenn sie denn wirklich ernst genommen und nicht von gewitzten Wissenschaftlerinnen und Studentinnen unterlaufen würden, die Freiheit der Wissenschaft längst erstickt hätten. Der heute in jedem Lehrplan stehende Kompetenzbegriff ist ihnen suspekt, da er den Einzelnen auf sich selbst als den Unternehmer seiner selbst zurückwerfe und den Begriff der Bildung ersetzen solle. Damit einher gehe eine Umwertung von Autonomie, Freiheit und Verantwortung. Die Einführung digitaler Medien in die Schule ist für sie nur eine weitere Fessel in doppelter Hinsicht: Unternehmen verkaufen ihre Maschinen und ihre Software, und Schülerinnen verlernen das selbstständige Denken in Strukturen, die möglicherweise andere sind als die Algorithmen ihrer Maschinen.

Gleichzeitig nutzen Unternehmen die miserable Ausstattung von Schulen mit Computern als Einfallstor. Lehrerinnen freuen sich, wenn ihnen Samsung einen Klassensatz Tablets zur Verfügung stellt. Bildungspolitikerinnen wie die etwa die linke Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg fragen sich deshalb, ob sich die soziale Spaltung durch den Einsatz von digitaler Bildung weiter vertiefen wird, weil die einen die Digitalisierung nur als Konsumentinnen erfahren, die anderen dagegen lernen, wie sie sie sich zunutze machen können. Also: »Digitalisierung first«, Bedenken gibt es zwar, aber die sind »second«?

Im Hintergrund lauert ein alter Streit in der Pädagogik: Kann, darf Bildung auf einen Zweck ausgerichtet sein, soll Schule und Studium auf einen Beruf vorbereiten oder muss Bildung nicht gerade befreien von den Fesseln einer durch ständische Fesseln und soziale Abhängigkeiten und Unterdrückung eingeengten Existenz? Allgemeine Bildung heißt seit Comenius: allen alles zu lehren. Auch Humboldt postulierte eine Bildung, die sowohl dem Tischler den Zugang zur Philosophie eröffnet als auch dem Philosophen das Handwerk. Also »Brauchbarkeit« versus »Allseitigkeit«? Ganz klar: Der Maßstab für Bildung muss sein, ob sie allen, unabhängig von der Herkunft, alle Möglichkeiten erschießt, sich diese Welt anzueignen, sich selbst im Gestaltungsprozess, der Arbeit heißt, zu verändern. Bildung muss Möglichkeiten eröffnen, die die Gesellschaft gegenwärtig der Mehrheit noch vorenthält. Alle Menschen sollten hinterfragen können, was sich im Betrieb, in den unmittelbaren Beziehungen tut ebenso wie was bei den Koalitionsverhandlungen oder in den Nachrichten verhandelt wird. Sie müssen so sprachfähig sein, dass sie am öffentlichen Diskurs teilnehmen können. Das ist eine Grundbedingung der Demokratie, auch wenn dieser Diskurs in der Realität immer mehr verkümmert. Da ist es auch wichtig, sich über soziale Medien artikulieren zu können, die heute die öffentliche Meinung mit prägen.

»Brauchbar« war im reaktionären Bildungsverständnis der Untertan, der die Ausbildung nur für den ihm vorherbestimmten Platz in der Gesellschaft bekommt und mit Gottesfurcht und Kaisertreue daran gehindert wurde, über seinen Tellerrand hinaus zu gucken. Mit dem Argument der mangelnden Brauchbarkeit mag heute mancher naive Schüler infrage stellen, wofür er Differentialrechnung, Goethe oder Kunstunterricht braucht. Ich habe übrigens in einer achten Hauptschulklasse erlebt, mit welcher Begeisterung diese vom System aussortierten Schülerinnen sich Goethes »Willkommen und Abschied« vorgelesen haben, weil sie die ebenso vertraute wie fremde Sprache fasziniert hat und weil sie für sich den Zugang zu einer Bildungswelt wollten, die ihnen sonst systematisch verschlossen ist. Nur das als brauchbar und wichtig anzusehen, was sich aus der unmittelbaren Lebenswelt erschließt, wäre exkludierend. Da wäre man ganz schnell wieder bei der »volkstümlichen Bildung« - jeder lernt nur für den Bereich, den er überblickt. Schuster, bleib bei deinem Leisten. Es reicht, wenn du deine Stromrechnung verstehen und ein Bewerbungsschreiben aufsetzen kannst. Das wäre zutiefst undemokratisch.

Die Erwartung, über die schulische Allgemeinbildung und später auch über ein Studium den Zugang zu einem anspruchsvollen Beruf zu finden, über den man einen Platz in dieser Gesellschaft hat und der für den Lebensunterhalt taugt ist nur legitim. Eine Bildungspolitik, die diesen Aspekt individuellen Nutzens von Bildung vernachlässigt oder verleugnet, wäre arrogant, elitär und exkludierend.

Im marxistischen Teil der Studentenbewegung der 1970er Jahre kursierte - damals übrigens nicht unwidersprochen - das Theorem der »Doppelqualifikation«: Man will eine berufliche Qualifikation und zugleich die Befähigung, die eigene Tätigkeit gesellschaftlich einzuordnen und kritisch hinterfragen zu können. Dieser Ansatz war damals im MSB Spartakus deshalb umstritten, weil man meinte, auf den zweiten Teil verzichten zu können und den Kampf für mehr Bafög, billiges Mensaessen und Wohnheimplätze in den Vordergrund stellte. Damals kritisierten wir eine von der gesellschaftlichen und beruflichen Realität gleichermaßen abgehobene akademische Ausbildung. Heute hat uns diese Kritik eingeholt und überholt, weil gesellschaftliche und individuelle Interessen an der Ausbildung verkürzt werden auf die Verwertbarkeit im Sinne des Kapitals. Wir sollten darüber sprechen, wie heute eine verkürzte Berufsorientierung im Studium überwunden werden kann zugunsten dieser Doppelqualifikation - für den Beruf und für die Vertretung der eigenen Interessen an einer sinnvollen Gestaltung der Arbeit und der gesellschaftlichen Organisation.

Vielleicht hilft die Rückbesinnung auf die polytechnische Bildung, allseitige Bildung und »Brauchbarkeit« zu vermitteln. Mit der Entwicklung der großen Industrie wurden Naturwissenschaften und Technologien zu einem entscheidenden Hebel der gesellschaftlichen Umgestaltung. Für Karl Marx war deshalb »polytechnische Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt«, neben geistiger und körperlicher Erziehung wichtig. Es ging schon damals um die »allgemeinen Prinzipien«, die durchaus praktisch im besonderen Produktionsprozess angeeignet werden könnten, also nicht um platte Berufsvorbereitung. Gleichermaßen wichtig war ihm die praktische Anwendung - wie sie später im Realsozialismus als »produktive Arbeit« der Schülerinnen und Schüler wieder auftauchte. Etwas Sinnvolles tun, den gesellschaftlichen Nutzen von Arbeit erfahren - dieser Gedanke, der Schule und Leben miteinander verbinden wollte, spielte ja auch in der (bürgerlichen) Reformpädagogik eine wichtige Rolle. Und er richtet sich gegen die in der Pädagogik in geisteswissenschaftlicher Tradition verbreiteten Verachtung von Arbeit und der daraus resultierenden Trennung von höherer und niederer Bildung, wozu ja die Bildung in den »Realien« zählte.

Für uns heißt das: Zu lernen, dass man auf Computern nicht nur spielen kann, sondern was sonst noch alles damit möglich ist, gehört zur Allgemeinbildung. Die Möglichkeiten der Informationstechnik im Lernprozess sinnvoll einzusetzen, ist gerade dort erforderlich, wo Bildungsdefizite aufzuarbeiten sind, etwa bei der Aneignung der deutschen Schriftsprache, im Fremdsprachenlernen oder in der Mathematik. Die Möglichkeiten sind vielfältig.

Der Wissenschaftsjournalist Rangar Yogeshwar hat in einem Vortrag vor der Leibniz-Gemeinschaft davor gewarnt, dass heute Algorithmen eingesetzt werden, die noch nicht einmal ihre Entwickler verstehen. Da kehren die Geister zurück, die von Vernunft und Aufklärung vertrieben wurden, meint er. Dies zu verhindern, ist eine wichtige Aufgabe von Bildung im 21. Jahrhundert. Um diesen Gefahren wirksam begegnen zu können, muss man aber erst einmal verstehen können, wo diese Gefahren lauern. Auch dazu muss Bildung nütze sein.

Der Autor (Jahrgang 1947) war viele Jahrzehnte als Bildungsjournalist tätig, etwa für die ARD, den Deutschlandfunk, die »Frankfurter Rundschau«, gewerkschaftliche und pädagogische Zeitschriften. Der Kölner ist derzeit Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in Nordrhein-Westfalen und Koordinator des »Gesprächskreises Bildungspolitik« der RLS.

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