Über meine Mutter in Damaskus

Bilder, Texte, Ängste und Reaktionen wiederholen sich in einem Krieg, der nicht enden will

  • Doha Hassan
  • Lesedauer: 10 Min.

Mein Schlaf war sorgenvoll und unbeständig, so wie mein auf dem Bett liegender Körper. Jedoch entschied ich mich, es weiter zu versuchen. Ich schaute immer wieder auf mein Handy, weigerte mich aber, es in die Hand zu nehmen. Mein Wunsch galt dem Schlaf, und sei es nur für eine Stunde, aber das gelang mir nicht. Als das Tageslicht in mein Zimmer hereinbrach, betrachtete ich das als Aufforderung zum Aufstehen.

Meine Familie ist nicht mehr Teil meines Lebens

Autorin und Text

Doha Hassan ist eine syrische Journalistin in Berlin und Beirut, die freiberuflich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet. Ihr arabischer Originaltext wurde am 23. Februar bei daraj.com veröffentlicht.

Für das Nahost-Dossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wo der Text zuerst auf Deutsch erschien, wurde er übersetzt von Mohamed Boukayeo und Johannes Frische (lingua•trans•fair).

Ich griff nach meinem Handy und öffnete WhatsApp. Ich fand eine Nachricht von meiner Mutter, die fragte, wie es mir geht. Ich habe meine Familie seit langer Zeit nicht gesehen. Inzwischen bin ich an einen Punkt gelangt, wo sie nicht mehr Teil meines Lebens ist. So rechtfertige ich mich für meine lapidaren Antworten und kurzen Gespräche mit ihnen. Ich antwortete kurz und bündig und frage, wie es ihnen geht. »Wir konnten gestern wegen der Bombardierungen überhaupt nicht schlafen«, antwortete sie. »Das ist normal. Das Regime macht Ghuta nieder«, sagte ich, indem ich versuchte, das Persönliche in diesem Gespräch zu ignorieren und meine Gefühle der Hilflosigkeit, die Tatsache, dass ich ihr nicht beistehen konnte, verbarg. Aber auch daran scheiterte ich, da ihre Worte lauter klangen als der Lärm der Geschosse. »Das Haus bebt bei jeder aus Damaskus abgefeuerten Rakete, ganz zu schweigen von den Mörser-Granaten, die links und rechts einschlagen. Dieses Mal bin ich etwas besorgt.«

Für einen Augenblick verharrte ich in einem Zustand seltsamer Lähmung, denn dass sie sich besorgt zeigte, war nichts Alltägliches. In Verwirrung schrieb ich ihr eine dumme Antwort: »Hab keine Angst!« Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr anderes hätte sagen sollen. »Ich habe keine Angst. Bete einfach für uns«, antwortete sie.

Meine Mutter und meine Schwester leben in Damaskus, auf der anderen Seite von dem Ort, an dem das blutigste Ereignis der letzten Zeit stattfindet. In Wirklichkeit leben sie jedoch auf derselben Seite. Das Haus der Familie liegt nicht weit vom Qasioun-Berg entfernt, auf dem die Artilleriegeschütze aufgestellt sind, die ihre Raketen in Richtung Ost-Ghuta am Rande der Hauptstadt abfeuern. Die Bewohner von Damaskus spüren sofort die Erschütterung, wenn eine Rakete die Mündung eines Geschützes verlässt. Sie sehen den aufsteigenden Rauch in der unmittelbaren Umgebung. Die nahe gelegenen Nachbarschaften überwältigt der Gestank von Splittern und Blut, Blut von Leichen, die sie nicht sehen. Gleichzeitig schlagen verirrte Mörser-Granaten auf sie ein, abgefeuert von der »Armee des Islams« (Jaysh al-Islam), die in den letzten Jahren die Kontrolle über Ghuta übernommen hat, sowie von der »Al-Rahman-Legion« (Faylaq al-Rahman), dem »Komitee zur Befreiung der Levante« (Hay’at Tahrir al-Sham) und den »Freien Männern der Levante« (Ahrar al-Sham).

Unter den Bewohnern der Hauptstadt herrscht die Angst davor, in ihrem großen Gefängnis, das sich fest im brutalen Griff des Regimes befindet, am bloßen Zufall zugrunde zu gehen. Gleichzeitig mit den Bewohnern Ghutas durchleben sie eine andere Angst. In Ghuta stirbt man keinen zufälligen Tod, sondern entkommt ihm durch reinen Zufall. Trotz der unterschiedlichen Umstände gibt es an beiden Orten kein Entrinnen vor der Angst.

»Das syrische Regime hat mit russischer Unterstützung am vierten Tag in Folge die schwere Bombardierung von Ost-Ghuta fortgesetzt. Dabei wurden mindestens 106 Zivilisten getötet. Damit steigt die Gesamtzahl der Opfer auf mindestens 250 Tote seit letztem Sonntag. Ost-Ghuta, am Rande von Damaskus gelegen, ist seit 2012 von Einheiten des Regimes hermetisch abgeriegelt. Am 21. August 2013 verübten sie ein grausames Massaker, bei dem chemische Waffen eingesetzt wurden. Dabei wurden 1600 Menschen getötet, die meisten von ihnen Kinder. Hunderte wurden verwundet.«

Syrien ist ins Koma gefallen

Vor dem 18. Februar waren die Syrien-Nachrichten unter den Headlines der Medien und sozialen Netzwerke mehr oder weniger eine Randnotiz. Trotz der kontinuierlichen Berichterstattung über die letzten sieben Jahre hinweg konnte niemand den Patienten Syrien heilen. Syrien fiel schließlich ins Koma und verwandelte sich in eine lebende Leiche. Die Ereignisse von Ghuta kommen nun einem Stromschlag gleich, der Syrien reanimiert und zurück in die Schlagzeilen bringt. In den sozialen Netzwerken wurden viele Kampa-gnen mit unterschiedlichen Titeln ins Leben gerufen. Die Berichterstattung über Ghuta ist in den arabischen und internationalen Medien an erste Stelle gerückt. Darüber hinaus trafen sich einflussreiche Persönlichkeiten sowie arabische und internationale Kräfte, um die Lage in Ghuta bei Krisensitzungen auf Konferenzen und Tagungen in mehreren Ländern zu diskutieren.

Gegenwärtig ist der Beobachter in einem Zustand äußerster Erregung, aber halten wir für einen kurzen Augenblick inne! Haben wir das oben Erwähnte nicht schon einmal erlebt, bei jedem grausamen Ereignis, ob Aktion oder Reaktion, dem die Syrer ausgesetzt waren? Oder war das nur eine Illusion, die dem Gesehenen vorausging? Ich spreche von Gefühlen, die ein Individuum empfindet, das eine gegenwärtige Situation bereits zuvor gesehen oder erlebt zu haben glaubt, von einem Déjà-vu.

Weit weg vom Ort des Geschehens. Um 18 Uhr. Bei klirrender Kälte. Ich trage einen Sommerpullover, darüber einen Winterpullover und eine leichte Jacke. Zudem eine schwarze Baumwollhose, darüber eine Jeanshose und eine dicke Winterjacke. All diese widerspenstigen Schichten, nur, um eine Packung Zigaretten kaufen zu gehen! Unterwegs habe ich mein Handy dabei, um die Ereignisse in Ost-Ghuta zu verfolgen. Plötzlich sehe ich das Bild eines Jugendlichen auf allen Facebook-Seiten meiner Freunde. Wartet einen Augenblick! Diesen Absatz habe ich schon einmal geschrieben, nein, dieses Bild habe ich doch schon einmal gesehen!

Ein Junge auf einem Bild, vielleicht ist er tot

Das Bild zeigt einen Jugendlichen, der mit einer Seite an einer zerstörten Wand lehnt. Seine Gesichtszüge sehen wir nicht. Sein Kopf ist nach unten gesunken. Schläft er? Seine Kleidung ist grau bedeckt, ebenso wie seine wirren Haare mitten im Chaos. Schau genau hin! Seine Kleidung und der Boden unter seinen Füßen und um ihn herum sind mit Blut getränkt. Geh näher an das Bild heran! Da sind eindeutig Einschusslöcher auf seinen Armen und Händen. Es sieht aus, als wären die Kugeln darin steckengeblieben. Jetzt geh etwas vom Bild zurück! Wir sehen einen Jugendlichen mit gesenktem Kopf. Übertrieben still sitzt er in der Ecke an einer zerstörten Wand, als wäre er müde und völlig erschöpft. Er schaut nicht in die Kamera. Schläft er? Ist er tot?

Sieh dir das Datum auf dem Bild an! Es wurde heute aufgenommen. Es ist das Bild eines aktuellen Ereignisses. Mir wurde so schwindelig, dass ich fast das Bewusstsein verloren hätte. Ich starrte lange auf den Bildschirm, dann schaute ich mich um. Mein Herz fing an zu rasen und zog sich so zusammen, dass ich fast erstickte. Es ist das heutige Datum. Aber ich bin mir völlig sicher, dass das, was ich erlebe, vergangen ist. Meine zitternden Hände greifen wieder nach dem Handy zu einem anderen Bild.

Im Blickpunkt des Fotos sieht man einen Metalltisch in einem Feldlazarett, auf dem sich vier auf dem Rücken liegende Kinderleichen befinden. Blut bedeckt die kleinen Gesichter und besprenkelt stellenweise ihre Körper. Drei Kinder liegen dicht nebeneinander, das kleinste Kind aber liegt zwischen den Beinen des Mädchens in der Mitte. Ihre Augen sind alle geöffnet, außer bei einem. Zumindest denke ich das, denn sein Gesicht ist, den anderen entgegengesetzt, nach rechts gewandt. Sie dagegen schauen alle nach oben. Keines von ihnen blickt in die Kamera. Leben sie noch? Sind sie tot?

Dieses Bild habe ich schon einmal gesehen, auch wenn es heute erst aufgenommen wurde. Mir kommen Erklärungen der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes in den Sinn. Die Vereinten Nationen verlangen ein Ende des »brutalen Massenmords« in Ghuta. Das Rote Kreuz fordert den sofortigen Zutritt zu Ghuta und erwartet das Schlimmste. Auch diese beiden Erklärungen habe ich schon einmal gelesen, aber wieder ist das Veröffentlichungsdatum aktuell.

Ich verlasse meinen Körper

Meine Körpertemperatur steigt an. Innerhalb von Sekunden verlasse ich meinen Körper und stehe plötzlich hinter mir. Ich beobachte mich selbst, als wäre ich eine Figur in einem Film, den ich schon einmal gesehen habe. Schnell kehre ich in die Wohnung zurück und schalte meinen Computer ein. Ich öffne mein persönliches Archiv, das Archiv, das ich noch nicht veröffentlicht habe, und lese: »Auf einem orangefarbenen Stuhl sitzt ein kleines Kind im Alter von fünf Jahren. Seine Gesichtszüge sind halbwegs deutlich zu sehen. Verwischt werden sie nur vom Grau und vom Rot, das die eine Gesichtshälfte bedeckt. Das Chaos, das um das Kind herum ist, spiegelt sich darin wider. Der kleine Körper ist übermäßig still. Er weint nicht. Er schreit nicht. Er schaut weit geöffneten Auges in Richtung der Kamera, während das Lid des anderen Auges bis zur Mitte der Pupille herunterhängt. Lebt er noch? Ist er tot?«

Dieses Bild verbreitete sich im August 2016 als Ausschnitt einer Videoaufnahme, die im Zuge der Bombardierung eines Gebäudes in der Stadt Aleppo entstanden ist. Die östlichen Viertel der Stadt, die später fiel, standen vor einem Jahr und sieben Monaten unter schwerem Beschuss seitens syrischer und russischer Kampfflugzeuge. Der Fotograf Mahmoud Raslan, der das Bild für Agence France-Presse aufnahm, kommentierte damals: »In der Regel verlieren sie das Bewusstsein oder fangen an zu schreien. Aber Imran saß stumm da und starrte verwirrt vor sich hin, als ob er nicht verstanden hätte, was ihm zugestoßen war.«

Ereignisse wirken wie eine Kopie von einer Kopie

Im selben Text lese ich Folgendes: »Unzählige kleine Körper liegen nebeneinander auf dem Boden. Auf dem Bild sieht man nicht einen Tropfen Blut, nur Kinder mit geschlossenen Augen. Die meisten von ihnen tragen Schlafanzüge. Keines schaut in die Kamera. Schlafen sie? Sind sie tot?«

Vier Bilder aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Es scheint, als ob die Ereignisse die Kopie einer Kopie wären. Es sind stets die gleichen Bilder, allesamt in ein und demselben Land aufgenommen. Als ob die Zeit nicht linear verliefe, sondern einen Teil ihrer selbst überlagert, bis sie ganz verloren ist. Damit wird die Zeit so schnell wie das Licht, völlig unbeeinflusst von der Bewegung der Quelle oder des Beobachters und unabhängig vom jeweiligen Ereignis und Standpunkt. An diesem Punkt entgleitet einem das Sein.

Diese Bilder sind nichts Außergewöhnliches. Sie werden niemanden schockieren, der die Situation in Syrien in den letzten Jahren erlebt hat. Was verunsichert, ist die eigene menschliche Reaktion auf die Ereignisse sowie die Tatsache, dass ihre Verarbeitung jeglichen zeitlichen Rahmen sprengt. Sie wecken in uns ein vertrautes, wenn auch negatives Gefühl. Es handelt sich um ein Gefühl, das immer wieder auftaucht, sich mit der Zeit nicht abschwächt, sondern einfach nicht mehr täglich wahrgenommen wird. Die persönlichen Bilder und Gefühle, die uns damals begleiteten, verschwinden nie gänzlich. Sie wirken sich vielmehr auf die Entwicklung unserer Gefühle und Reaktionen aus und werden mit der Zeit immer mehr zur schleierhaften Quelle unseres heutigen Selbst. Es reicht schon aus, dass uns ein ähnliches Bild ins Auge fällt, um den »Ereignis-Container« zu erschüttern. Dieser Anblick macht aus dem Nichts eine reale Existenz, die Wahrnehmen und Fühlen einschließt. Dabei vermischen sich die vergangene und die gegenwärtige Existenz im selben Moment zu einer Einheit.

Meine Mutter sagte mir eines Tages, sie sei bei mir, obwohl das aufgrund der räumlichen Entfernung unmöglich war. Aber in diesen Tagen spüre ich zum ersten Mal, dass ein Teil von mir bei ihr ist. Meine aktuelle Situation hat nichts mit ihrer gemein, aber wir leben in derselben Zeit. Während ich in diesen Gedanken versunken bin, erreicht mich eine neue Nachricht von ihr. Statt sie zu lesen, schreibe ich weiter an diesem Text. Ich verfüge über keine Worte, nur über unsinnige Machtlosigkeit. Sich dieser Machtlosigkeit zu unterwerfen, rechtfertigt mein langes Schweigen.

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