Im Terminal zu Hause

Am Münchner Flughafen leben zahlreiche Obdachlose - ein Streetworker-Projekt soll ihnen helfen

  • Aleksandra Bakmaz, München
  • Lesedauer: 5 Min.

Intern nennen sie ihn den Engländer. Er trägt englischen Landhausstil, schiebt einen schicken Rollkoffer vor sicher her und fällt im Getümmel des Münchner Flughafens kaum auf. Auf den ersten Blick zumindest. Denn: »Wir sind uns sehr sicher, dass er ein Obdachloser ist, weil wir ihn schon sehr oft hier gesehen haben«, erklärt Markus Jaehnert. Der 46-jährige ist Streetworker und kümmert sich seit Anfang November mit seiner Kollegin Jessica Gürtler (29) am zweitgrößten Flughafen Deutschlands um obdachlose Menschen.

Initiatoren des Streetworker-Projekts »Mose« sind die kirchlichen Dienste des Airports in Kooperation mit dem Flughafen selbst. Das Ziel: »Menschen, die sich am Airport aufhalten, aus der Wohnungslosigkeit zu helfen«, erklärt der evangelische Flughafenseelsorger und Projekt-Chef Stefan Fratzscher.

Pfarrer Fratzscher und seine beiden Sozialarbeiter gehen von derzeit rund 20 Obdachlosen aus, die am Münchner Flughafen wohnen. Über das Jahr verteilt sind es in Intervallen 80 bis 150 Menschen. »Das sind nur Schätzungen, in einem Jahr können wir sicher mit genaueren Zahlen arbeiten - im Augenblick können wir hier nur vom Hören-Sagen berichten«, sagt Jaehnert.

Die Gründe für die Menschen, an den Flughafen zu kommen, seien vielschichtig. »Das geht los bei akuter Wohnungslosigkeit bis hin zu der bewussten Entscheidung, am Flughafen zu leben«, so Gürtler. Es seien Männer und Frauen, von Anfang 20 bis Ende 60, »queerbeet gemischt«.

Die Arbeit der Streetworker bestehe darin, sich um einen schnellen Schlafplatz für die Menschen zu kümmern. »Deshalb haben wir am Anfang ein Netzwerk aufgebaut, Kontakt zu Fachstellen für Obdach- und Wohnungslosenhilfe in München und dem Umland aufgenommen«, erklärt Gürtler. Das sei viel Laufarbeit gewesen, so Jaehnert: »Der Münchner Flughafen liegt eine dreiviertel Stunde vom Stadtzentrum entfernt.«

Doch was macht ihn als Zufluchtsort trotz der weiten Entfernung zur Stadt so reizvoll? »Der Flughafen ist ein besonderer Ort, die Verbindung zur Welt«, glaubt Gürtler. Und: »Wir haben 365 Tage im Jahr 24 Stunden auf«, so ein Airport-Sprecher: »Das haben nicht so viele.« Prinzipiell sei es aber nicht erwünscht, dass Obdachlose hier übernachten. Das Ziel des Projekts sei deshalb auch, dafür zu sorgen, dass es weniger Obdachlose werden.

»Das wird ein langer Weg«, prophezeit Jaehnert. Man müsse erst einmal durch Gespräche das Vertrauen der Betroffenen gewinnen. Kleine Annäherungen seien oft schon große Erfolge. Der Vorteil von Streetworking sei, dass sich die Menschen nicht überwinden müssten, Hilfe zu suchen. »Das Angebot kommt erstmal zu ihnen.«

Dafür werde zunächst versucht, die Hotspots der Obdachlosen ausfindig zu machen. »Terminal 2 hat ein paar Ecken, die uneinsichtig sind«, berichtet Jaehnert. Auch ruhige Winkel, Treppenhäuser, Ecken mit Heizungen, Toiletten und Waschräume seien vor allem nachts bevorzugt. Tagsüber würden sich die Betroffenen ins Getümmel stürzen, manche würden Pfandflaschen sammeln und fast schon zielstrebig wirken.

Der Münchner Flughafen ist nicht der erste in Deutschland, der sich mit Streetworkern um Obdachlose kümmert. Auch in Frankfurt am Main ist eine Sozialarbeiterin im Rahmen eines Diakonie-Projekts im Einsatz. Seit Oktober des Jahres 2016 kümmert sie sich um die rund 70 Obdachlosen, die dort regelmäßig übernachten. Rund 200 halten sich Schätzungen zufolge dort täglich auf. Auch an den Flughäfen in Zürich und London gibt es laut Fratzscher solche Projekte.

Im Durchschnitt sind dem Flughafen München täglich rund 120 000 Passagiere unterwegs. Das sind mehr als 44 Millionen im Jahr. Hinzu kommen etwa 35 000 Mitarbeiter. »Täglich halten sich hier mindestens 140 000 Menschen auf, eine mittlere Großstadt also«, so der Sprecher. Bei diesen Größenordnungen müsse man erst einmal herausfinden, wer Obdachloser ist und wer nicht. Das sei die besondere Herausforderung für die Streetworker, sagt auch Fratzscher. Das sei keine leichte Aufgabe. »Es sind natürlich nicht immer Abziehbilder von einem Obdachlosen, wie man sich ihn vorstellt.« Gürtler beschreibt das Vorgehen so: »Wir schauen einfach, wer könnte es sein, wer schaut auch bevorzugt in Mülleimer rein - das ist ein ganz wichtiger Indikator für uns.« Man sei schon fast investigativ unterwegs oder schaue von einer Empore herunter und prüfe: »Wer fällt uns auf?« Und dann natürlich: »Wer fällt uns am nächsten Tag, in der nächsten Woche auf?«

Viele seien wie der Engländer: unauffällig. Manch einer tarne sich mit einem Koffer, lese Zeitung. Einer sei sogar mit einem Tütchen der Luxuswarenfirma Louis-Vuitton-unterwegs. »Sie können sich sehr gut einfügen und suchen vielleicht bewusst auch die Anonymität des Flughafens«, sagt Fratzscher.

Doch die, die man als Langzeitbesucher bezeichnen kann, erkenne man leichter. »Die meisten langjährigen Bewohner entwickeln mit der Zeit Psychosen, werden immer auffälliger und wirken ungepflegter.« So wie Frau K., die unglaubliche 20 Jahre am Flughafen München lebte. Am Ende wurde sie körperlich und seelisch so krank, dass man sie in eine Klinik einweisen musste, wie Fratzscher erzählt. »Heute geht es ihr wieder gut, haben wir erfahren.«

An solchen Schicksalen nehme jeder Flughafen-Mitarbeiter Anteil, sagt Gürtler. Der respektvolle Umgang mit den Menschen sei auch gleichzeitig der Türöffner zu deren Herzen, ergänzt Jaehnert: »Darauf sind wir angewiesen, dass wir diese Menschen berühren und damit erreichen können.« dpa/nd

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