Wider den »Erfahrungsdreck«

»Krieg« von Rainald Goetz am Berliner Ensemble

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Kunst ist der Glanzraum der Verantwortungslosigkeit: bloß keinen Dialog mit Politik, bloß keinen Konsens mit gesellschaftlichen Verhaltensprogrammen. Der Künstler ist ein Rivale der Realität. Zuständig für Bilder ohne Scham, für Gedanken ohne Übergang, für Geist ohne Rücksicht. Kunst muss die Wirklichkeit unmöglich machen. Sagte Heiner Müller. Muss deren »ganzen Erfahrungsdreck« brachial blamieren. Sagt Rainald Goetz. Als er 2015 den Georg-Büchner-Preis bekam, sprach er von einer »Reserve der Unabhängigkeit«, die der Künstler anlege. Beschwor eine »Distanz zum Sozialen« und sah eine Hoffnung darin, dass die Welt nicht davon untergehe, wenn man sie in der Kunst zerstöre.

»Leben: Möglichkeit des Daseins, und damit ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist.« Schrieb, hart im Einverständnis, der Mediziner Georg Büchner. Und Goetz, der mit dreißig den Arztberuf aufgab, schreibt: »Wie leben wir leider? Böse real und realistisch kaputt.« So sieht’s aus. So sehen wir aus. Wär’s nicht so, sähe die Welt nicht so aus, wie sie aussieht. Deshalb, geheiligte Theaterkunst: Schreck ab! Lass deine Blutbeutel platzen, schieß Gedröhn aus den Stimmbändern! Wirf mit Text um dich, dass unsere Hirne jammern, weil sie keine Beine zum Fliehen haben. Korrektheit ist Kinderei. Derer, die einzig das Talent haben, sich über Norm- und Formabweichungen zu ereifern.

Robert Borgmann inszenierte am Berliner Ensemble Goetz’ Trilogie »Krieg«. Sprache marschiert auf wie ein Horrorwesen, das sich selber frisst. »Kreuz­kru­zi­fix ze­fix Scheiß Te­le-fon­ze­fix kreuz­sa­kra­ment.« Wut wuchert, Unsäglichkeit sucht Worte. Zitate von sonstwoher rutschen wie Zombies sehr ferner Zusammenhänge über die Atemstöße der Spieler. Das schwatzt und schwärt und schreddert. Das Stück ist über dreißig Jahre alt, wurde seitdem kaum gespielt, und alles Provokative scheint seit frühem Handke oder uraltem Achternbusch längst abgearbeitet. Trotzdem: Wirkung tritt ein!

Der viereinhalbstündige Performance-Rülpser-Ritt ist, vom Ende her gesehen, doch sehr, sehr rüttelnd und herzrupfend gewesen. Der Abend jault auf wie ein Motor, der sich auf Hochtouren, ohne einen Tropfen Öl, das eigene Eisenfleisch zerfräst. Eine Bloßlegung: Wir schwitzen uns mit unseren sehr überschaubaren Intelligenzen durch eine Gegenwart, der wir scheißegal sind, doch fortwährend kurbeln wir mediale Problemdiskurse an, die letztlich nur das eigene Ego beglänzen sollen. Goetz’ Tiraden-Tortur greift rotzend und röhrend hinein in diese Sinn-Simulationen, mit denen wir uns tagtäglich süchtig versorgen.

»Heiliger Krieg« heißt der Beginn. Ein Kotzbrockenregen. Zwei Männer heißen Stammheimer und Stockhausen - Terror: Tod und Töne. »Die Scheiße ist«, weiß Stammheimer, »dass das Argument wurscht ist, wenn das Argument kein Gewehr ist.« Das ganze deutsche Programm im Nummern-Nocturno: Klassenkampf und Bier, rote Mission und noch rötere Misere. Achtundsechzig: sabbern und salbadern, man ist Kommunist und Kommiss. Und betreibt dann die wahrhaft geschichtemachende Wiedervereinigung - zwischen Saufland und Kaufland; ein Chor »mündischer« Bürger sächselt uns seine Sorgen entgegen.

Im zweiten Teil »Schlachten« tobt sich ein verzweifelt untätiger Historienmaler durchs wahre Kriegsfeld: das Familiengrauen. Ein »Bildmöglichkeitsvernichter« aus der Suada-Serienwerkstatt eines Thomas Bernhard. Gerrit Jansen spuckt Salat, als sei auch der ein bittrer Text. »Kolik« schließlich bietet den drückenden Sterbemonolog eines Trinkers, eine Endlosigkeit im staubmürben Geiste von Bruder Beckett. Aljoscha Stadelmann eine halbe Stunde lang in einem Kisten-Kabuff: Sprache, die der armen Kreatur Halt und Klarheit bringen soll, wird zu einem Labyrinth, darin der Mensch japsend, erstickend, immer klaustrophobischer ins Stammeln sinkt, wie in einen tödlich schmatzenden Sumpf. Sterben, Stille. Wohllaut ist dort, wo ein Mensch die Schnauze hält. So schafft der Tod Hochkultur.

Das Kunstblut schwappt. Der Monolog marodiert. Weintrauben schnipsen ins Publikum. Das siebenköpfige Ensemble treibt’s übertreibend. Lästermaul trifft Revolverfresse. Weiße Unterwäsche, rote Gesichtsmasken, über allem ein Weltenrad aus Neon, wunderschön eckig - Räder müssen rollen für den Siech. Sieben Köpfe, sieben Körper. Von einer atemberaubenden Lust an der Erschöpfung. Erschöpfung, die aus Choreografien der Angst kommt.

Denn Besseres als Angst kann man nicht zeigen. Weil sie der Ursprung aller Bewegung ist (wir wollen fortwährend irgendwem entkommen!), sie ist aber auch das Ende aller Bewegung (man entkommt nicht!), und sie ist dann der nächste Ursprung, für die nächste Bewegung, die nächste Angst. Schauspieler als Amokläufer im Teufelsmenschenkreis. Überragend, alle.

Von aufschäumender Wucht, wie Stefanie Reinsperger das nackte Fleisch feiert: eine entblößte Matrone der Tobsucht. Eine zartpralle, geradezu porenoffne, vor allem weibkräftige Antwort auf überspannten Feminismus. Ingo Hülsmann steht lange, lange an der Rampe, spricht über die reine Lehre, die saubere Partei, spult mit furchterregender Grandezza den Frustfrost des fühllosen Funktionärs ab. In Bomberjacke. Annika Meier, Veit Schubert: wild, weich, weh und wund bis zum scheppernden Anschlag. Constanze Becker zelebriert gefrierschrankheiß eine Monolog-Messe zur Massenhysterie. Spielte diese Schauspielerin nichts weiter als ein Stück Beton - inmitten der abgeforderten Ungerührtheit bewies sie wohl zuvörderst dessen Tränendurchlässigkeit.

Der Autor Goetz ist ein Räudiger. Ein Großstadtirrer mit enormer Quasselqualität. Ein Polaroid-Poet für fiebrigste Wahrnehmungsorgien. Alles ist schon in der Welt, aber nichts ergibt wirklich ein beispielwürdiges Leben: »Man ist ein Abgrund und es ist Nacht. Das ist die Lage.« Diese Literatur sagt: Nur das Fragliche beglückt, und einzig der Stich gegen die eigene Starrheit beseelt - also mach just das, was dich so verstört, zu dem, was dich betört. Erwarte den Steinhagel, dann erträgst du den Regen! Zu solcher Einheit von Selbstgenuss und Selbstschmerz will erst mal gefunden sein. Robert Borgmanns Inszenierung findet.

In einer Poetikvorlesung hatte Goetz von »Goethianischer Sprachvermufftheit« und von dem »Rentneroiden« all jener gesprochen, die angeblich wissen, was die Welt zusammenhält. Nichts wissen diese Logik-Lemuren, sie schrauben sich ein Weltbildlein dürftig zusammen und stopfen sich damit das Bewusstsein voll. Zu Beginn der Aufführung war ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde (eine Videoprojektion) demontiert worden. Das Ich, der freie Blick ins Wesenlose: Innerlichkeit ist Idiotie; gegen Gesums hilft nur Gepolter.

Sämtliches Material, das wir formen und das wir Kultur und Weltaneignung nennen, ist Selbsttäuschungsdroge, also Trümmerstoff. Daher: hoch die Regler bis zum Anschlag! Regisseur Borgmann (der sein eigener Bühnenbildner ist) und das Ensemble seiner aufgedrehten Verzweiflungskomiker wirken wie Höllenfeuerzünder, die auf Siedepunkte zujagen. Um später abrupt auf eine klug gedämpfte Wüstenei zu schalten. Stimmungsrausch und Stimmungskater. Den Schrei kultivieren, dass er vom Gelächter nicht zu unterscheiden ist.

Nächste Vorstellungen: 26. März, 7. und 13. April

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