Leben im Wartestand

Stefan Agopian: Sein »Handbuch der Zeiten« erschien erstmals 1984 in Ceausescus Rumänien

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 3 Min.

Zwei Typen wie Estragon und Wladimir wandeln durch dieses schmale Buch. Auch sie warten. Aber sie warten nicht auf Godot. Sie warten auf den Krieg. Es ist Weihnachten 1806, erfahren wir, die russische Armee besetzt Bukarest. Und die beiden abgerissenen Gestalten vertreiben sich die Zeit mit dem Warten und den Fragen, mit den Fragen und dem Warten in trauter Einigkeit.

»›Es schneit dauernd!‹, sprach Ioan ungerührt irgendwann einmal. ›Ich denke gerade darüber nach‹, sprach der Armenier, ›dass, wenn es schneit, sie genau deshalb nicht so bald kommen werden, wer macht sich schon bei so einem Wetter auf den Weg? Ich bin müde und daher glaube ich, dass sie heute nicht kommen werden‹, sprach er noch und, als er ein schläfriges Auge öffnete, sah er schief auf die Welt. Und die Welt war wie ein schweigsamer Schlitten, der durch den Winter glitt und durch ihre stinkende Kammer.«

Winter ist es auch, als dieses Büchlein erstmals erscheint, 1984, in Ceausescus Rumänien. Das Warten im Stalinismus wird veranschaulicht; die Sehnsucht nach Engliterra, dem nebelverhangenen Land, wird nicht nur einmal erklärt; die Spionage im Land wird benannt, auch die Überwachung und die Bespitzelung - doch die Zensoren merkten nichts und ließen das Buch ungehindert durch, glaubt man den Anmerkungen des Verlegers vom Verbrecherverlag.

Ioan nennt sich Geograf, der Zweite aber, der Armenier Zadic, ist offenbar ein Alleskönner (oder ein genialer Hochstapler), für seine Berufsbezeichnungen benötigt er eine volle Druckseite in diesem Buch, und seine Berufe reichen vom Nippeshausierer über den Hornviehgrossisten bis hin zum Liebhaberdarsteller. Wir befinden uns Anfang des 19. Jahrhunderts, mal wird das Jahr 1801 genannt, mal 1807 oder 1806, es ist die sogenannte »Phanariotenzeit« in Rumänien, eine Zeit des Verfalls und des nationalen Desasters. »Schweigend fiel Ioan in das vollkommene und düstere und lichte Schweigen jenes Tages. Erstarrt schüttete eine weißliche Sonne Stunden über sie wie ein antiker und unbrauchbarer Mechanismus. Und schweigend und schauend schauten sie. Und während sie schauten, floss der Tag träge an ihnen vorbei, noch ein Tag, ebenso, und entstand noch einmal.«

1984 aber, als dieses Büchlein erstmals in Rumänien erschien, regierte Ceausescu seit zwanzig Jahren. Der Geheimdienst Securitate sicherte die Macht des Diktators. Angst und Schrecken wurden verbreitet, Umsiedlungen fanden statt, die Altstadt von Bukarest war zu einem großen Teil niedergerissen worden. Es war eine Zeit des Verfalls und des nationalen Desasters. Ein Leben im Wartestand.

Und in jenem feindseligen Klima und dem Schlachtengetümmel von nah und fern drechseln die beiden Hauptfiguren, Ioan, der Geograf, und Zadic, der Armenier, die Öde des Alltags ins Absurde. Sie erfinden sich ihre Weisheiten aus der fantasierten Antike. Sie fachsimpeln über das Wohlergehen von Engeln und die Flugbahnen von Kanonenkugeln. Sie philosophieren über die Logik und die Weisheit des Niesens und verdrehen die Welt so genial wie Karl Valentin. Der Autor aber, der sich in Wirklichkeit als verhinderter Lyriker betrachtet, brachte es zum Satiriker und ist heute, mittlerweile siebzig Jahre alt, Literaturredakteur. Sein Name: Stefan Agopian.

Dem Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse ist es zu verdanken, dass wir auch diese Terra incognita in Umrissen entdecken dürfen: eine Literatur in Rumänien, die weit mehr als bloß national geprägt ist. Schade nur, dass der Verlag sich nicht mehr angestrengt hat, dem Publikum Hintergründe und Zusammenhänge zu diesem Klassiker der Moderne genauer zu erläutern. Davon abgesehen bleibt uns das Gelächter aus vollen Kehlen. Ein geeignetes Mittel auch in unseren Tagen, um die Zumutungen von Potentaten in aller Welt zu ertragen.

Stefan Agopian: Handbuch der Zeiten. Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Verbrecherverlag, 104 S., geb., 18 €.

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