Alles steht auf dem Spiel

Ursprung und Untergang: »Lucy« und die Affenmenschen in den aktuellen Bildern von Yury Kharchenko

  • Christoph Tannert
  • Lesedauer: 6 Min.
Romantik und Dystopie in einem Kuss vereint.
Romantik und Dystopie in einem Kuss vereint.

Kennen Sie »Lucy«? Wissenschaftlich bekannt als Australopithecus afarensis, gilt sie als eine der bedeutendsten Urahnen des modernen Menschen. Vor etwa 3,2 Millionen Jahren lebte sie in Ostafrika, ihr teils erhaltenes Skelett wurde 1974 von dem Paläoanthropologen Donald Carl Johanson in Äthiopien entdeckt. »Lucy« ist ein eindrucksvoller Beleg für die evolutionäre Herkunft des Menschen vom Affen – ein fundamentaler Gedanke der modernen Wissenschaft, der bis heute fasziniert und provoziert.

Mit dieser Schnittstelle zwischen Mensch und Affe befasst sich auch die aktuelle Bildserie des Künstlers Yury Kharchenko. In seinen Werken, die zwischen Vergangenheit und Zukunft oszillieren, bezieht er sich auf das ikonische US-amerikanische Science-Fiction-Franchise »Planet of the Apes« (Planet der Affen), das 1968 mit der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Pierre Boulle begann.

Yury Kharchenko nutzt oft alte Bilder von Berliner Flohmärkten als Ausgangsmaterial – Fundstücke unbekannter, oft längst verstorbener Künstler. Diese Readymade-Landschaften übermalt er und verwandelt sie in eigene szenische Bildräume, in die er gezielt affenhafte Figuren in futuristischen Posen implantiert.

Ein besonders markantes Werk zeigt einen Kuss zweier Affen vor einer idyllisch-naiven Landschaft. Die Szene erinnert unweigerlich an die Abschiedsszene aus dem ersten »Planet der Affen«-Film, in der der Astronaut Taylor (Charlton Heston) der Schimpansin Dr. Zira (Kim Hunter) einen Kuss gibt – ein Moment voller Symbolkraft, der in Kharchenkos Version Romantik und Dystopie vermählt.

Die Handlung des Films ist bekannt: Taylor strandet auf einem fremden Planeten, auf dem intelligente Affen über eine primitive Menschheit herrschen. Die Schlussszene, in der er die zerstörte Freiheitsstatue entdeckt, offenbart, dass er sich auf der postapokalyptischen Erde befindet – ein zivilisatorisches Memento mori. Die diversen Fortsetzungen des Films kulminierten in einer Zeitschleife, in der Affen und Menschen ihre Rollen tauschen, Gewalt sich wiederholt und jede Utopie durch neue Formen von Macht korrumpiert wird. Diese zyklische Struktur wird in der filmischen Neuauflage der 2010er Jahre radikalisiert. Letztendlich führt die Filmerzählung in einen existenziellen Ausnahmezustand, in dem nicht mehr Gut gegen Böse, sondern Spezies gegen Spezies kämpft. Sprache, Macht, Ethik – alles steht auf dem Spiel.

Kharchenkos Arbeiten greifen diese Narrative auf, aber nicht als Illustration, sondern als Spiegelung. Der Künstler nimmt die Affen aus ihrer filmischen Rahmung heraus und platziert sie in neuen, teilweise zeitenthobenen Kompositionen. Seine Affen sind nicht eindeutig: weder Tier noch Mensch, weder Zukunft noch Vergangenheit. Sie treten ins Bild als Avatare einer Menschheit, die sich selbst nicht mehr erkennt.

Das künstlerische Konzept Kharchenkos ist eine Spielebene der Dekonstruktion. Die Himmel werden in comicartige, dunkle Farbflächen transformiert, Landschaften auf symbolische Reste, zum Beispiel Baumstämme, reduziert. So entstehen unwirtliche, künstliche Areale einer negativen Utopie, in der niemand freiwillig leben möchte.

Ein erschütterndes Bild zeigt einen scheinbar schwebenden Affenkopf, dessen schwarze Behaarung an Vanitas-Darstellungen von James Ensor erinnern. Kharchenko dramatisiert die Szenerie mit einem gestisch gemalten Pfeil, der das Bild durchkreuzt – ein Symbol, das gleichermaßen für Rückkehr wie für Untergang stehen kann.

Affen und Künstler sind in der Kunstgeschichte auf mannigfaltige Weise miteinander verbunden. Die Darstellung des Künstlers als Affe verweist auf dessen Außenseiterrolle – ein klassisches Motiv, das die Kunstgeschichte seit dem 17. Jahrhundert kennt. Künstler inszenieren sich als nachahmende »Affen der Natur« und reflektieren oder karikieren ihr Selbstverständnis. In dieser Tradition steht auch Kharchenko. Seine Affen sind keine Parodie, sondern Reflexion. Sie führen das Menschliche vor, überzeichnen es, verdichten es. Und genau darin liegt ihre Kraft: Sie zeigen nicht bloß, sie befragen die Wirklichkeit.

Bestimmte Problematiken irritieren mit neuer Dringlichkeit. Die Covid-19-Pandemie hat den Körper als Ort des Politischen neu markiert: Isolation, Ansteckung, Sterblichkeit wurden plötzlich universell spürbar. Weltweit immer wieder neu aufflammende Kriege lassen den Glauben an die Friedfertigkeit des Menschen und den menschlichen Fortschritt hohl werden. Im Angesicht der Zerstörung verliert sich der Mensch selbst in seiner eigenen Hybris. Die technische Überlegenheit, die ihn einst von »Lucy« abhob, hat ihn in eine Lage geführt, in der die Zivilisation selbst zur Disposition gestellt wird.

Kharchenkos Affenbilder sind keine Science-Fiction mehr. Sie sind Anthropologien des Jetzt. Der Affe blickt nicht aus einer fernen Zukunft auf den Menschen zurück – er steht bereits neben ihm. In seiner Mimik, seiner Körperlichkeit, seiner Präsenz wird deutlich, was wir vergessen haben: dass der Mensch nicht nur Vernunft ist, sondern auch Instinkt, Trieb, Begehren. Dass Geschichte nicht linear verläuft, sondern bricht, stürzt, zurückschlägt.

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Neben der Zerstörung taucht in Kharchenkos Werk immer wieder das Thema Liebe auf. In einigen Bildern sehen wir Affenpaare vor brennenden Landschaften oder kosmischen Hintergründen – mal als Silhouetten, mal abstrahiert bis zur Unkenntlichkeit. Ein Werk erinnert in seiner flammenden Farbintensität an Van Gogh, ein anderes an HR Gigers Alien-Welten und die romantische Naivität der Comicserie »Love Is …« von Kim Casali. Die Kraft der Liebe ist hier nicht Rettung, sondern Widerstandspotenzial gegen die vollständige Auflösung des Humanen.

Diese Mischung aus Intimität und Endzeit, Zitat und Zerrüttung macht Kharchenkos Serie so faszinierend. Sie ist ein Spiegelbild unserer Gegenwart – einer Zeit zwischen digitalem Rückzug, tatsächlich körperlicher Angst und geopolitischer Ohnmacht. Doch gerade in dieser Krise beginnt wieder Kunst. Der mimetische Affe im Spiegelverhältnis zur Welt wird wieder sichtbar. Er malt nicht bloß nach, er deutet vielmehr, erinnert und aktiviert.

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner erkennt im Zivilisationsbruch das Ende der Vorstellung eines linearen Fortschritts: Zivilisation selbst kann in Barbarei umschlagen. Kharchenkos Affenmenschen sind fragile Überreste dieser Erkenntnis – Überlebende eines Bruchs, der keine Rückkehr zur Unschuld erlaubt. Bei Kharchenko bleibt letztlich ein zerstörter Raum übrig: übermalte, fragmentierte Landschaften, deren Verletzungen sichtbar bleiben. Kharchenkos Affenmenschen erinnern uns daran, dass die Evolution keine lineare Erzählung ist, sondern eine Spirale voller Wiederholungen, Rückschläge und plötzlicher Umbrüche. In ihren traurigen Blicken liegt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Frage, ob wir überhaupt eine Zukunft wollen, die wir selbst gestalten – oder ob wir längst wieder auf dem Weg zurück zu »Lucy« sind.

In der Synthese all dieser Perspektiven wird klar: Kharchenkos Kunst ist kein dystopisches Schreckensbild, sondern eine radikale ethische Meditation: Nicht das Neue steht im Zentrum, sondern das Erkennen und Bewahren der Verletzungen. Das Werk des in Berlin lebenden Künstlers (Jahrgang 1986) stellt die radikale Frage, wie nach dem Bruch, nach dem Verlust aller Ursprungsmythen noch Verantwortung möglich ist: durch das Bewusstsein der eigenen Brüchigkeit und durch das Anerkennen der fremden, nie ganz greifbaren Spur des Anderen.

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