Die Gnadenfrist ist vorbei

Die ersten hundert Amtstage von Mateusz Morawiecki sind an Turbulenzen kaum zu überbieten

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 3 Min.

In der polnischen Politik werden die ersten hundert Amtstage einer neuen Regierung gemeinhin als »miodowe miesiące« (in etwa: »honigsüße Monate«) bezeichnet, in denen dem Ministerpräsidenten eigentlich viele Fehler verziehen werden.

Nun war allerdings der seit Dezember amtierende Mateusz Morawiecki bereits vorher zwei Jahre stellvertretender Regierungschef im Kabinett Szydło, hatte allmählich seine Machtbefugnisse ausgeweitet und sich die Gunst des informellen Strippenziehers Jarosław Kaczyński erschlichen. In der Tat schien Morawiecki bis Dezember alles zu gelingen. Sein Superresort leitete der 49-jährige Breslauer mit der Nonchalance eines weltgewandten Kavaliers, der fortwährend den Eindruck erweckte, als habe er nie vor einer unlösbaren Aufgabe gestanden. Deshalb hatte Kaczyński den politischen Wunderknaben auch mit höheren Ämtern betraut. Und womöglich deswegen beurteilten die Medien Morawiecki nach der unlängst verstrichenen »Gnadenfrist« kritischer als andere Neulinge.

Denn kaum an der Spitze angelangt, musste er sich zahlreichen Turbulenzen aussetzen, die seine Defizite offenlegten. Fast vergessen scheinen seine farbenfrohen Powerpoint-Präsentationen, mit denen er auch noch den letzten Nörgler von der guten wirtschaftlichen Lage seines Landes überzeugen konnte. Wirtschaft und Modernisierung sollten auch weiterhin zu den Arbeitsschwerpunkten des neuen Premiers zählen. Stattdessen geriet Morawiecki aber gleich nach Amtsantritt in einen geschichtspolitischen Streit, in dem er - trotz seiner historischen Grundausbildung - etwas hilflos wirkte.

Das kontrovers diskutierte Holocaust-Gesetz sollte »den guten Namen Polens« auf internationaler Ebene schützen, hatte aber das Gegenteil zur Folge. Die Welle kritischer Kommentare aus Israel und den USA ist bis heute nicht abgeebbt. Mit der Regierungsumbildung sowie der Absetzung erzkonservativer Haudegen wie Antoni Macierewicz und Witold Waszczykowski verfolgte die PiS das Ziel, die multilateralen Beziehungen wieder in ruhige Bahnen zu lenken und das Vertrauen Brüssels zurückzugewinnen.

Aufgrund der Justizreform wurde dort gegen Warschau ein beispielloses Strafverfahren eingeleitet. Morawiecki erklärte die Schlichtung des Konflikts mit der EU zur Chefsache, doch auch dies scheint zum Scheitern verurteilt. Das Anfang März in Brüssel eingereichte »Weißbuch«, das die Reformen als Fortschritt für die Unabhängigkeit der Gewaltenteilung beschreibt, wurde bereits von einigen Experten schonungslos verrissen, die darin enthaltenen Argumente als »unhaltbar« verworfen. Überdies hat jüngst ein irisches Gericht die Auslieferung eines Polen aus Sorge um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz gestoppt und wandte sich an den Europäischen Gerichtshof. Ein Vorfall, der nicht sonderlich zur Entkräftung der von der EU-Kommission vorgebrachten Argumente beitragen dürfte.

Unterdessen wird in Polen selbst die Umsetzung der Justizreform brachial vorangetrieben. In einigen Woiwodschaften legten Richter aus Protest freiwillig ihre Ämter nieder und die Richtervereinigung »Iustitia« hat ihren eigenen Gegenentwurf zum »Weißbuch« veröffentlicht. Der Landesrichterrat (KRS) wurde bereits personell umgekrempelt, kann indes noch nicht offiziell berufen werden, weil dies in den Kompetenzbereich der Vorsitzenden des Obersten Gerichts (SN) fällt. An der Spitze des SN steht nach wie vor die ubeugsame Małgorzata Gersdorf, die zuletzt ihre Krankschreibung eingereicht hat - vermutlich ebenfalls aus Protest.

Die Polen erleben also in diesen Wochen eine ähnliche Pattsituation wie schon 2016, als die Neuordnung des Verfassungsgerichts zur Debatte stand. Und leider kann die PiS auch diesmal hoffnungsfroh in die Zukunft blicken: Wegen der eingeleiteten Reform wird die 65-jährige Gersdorf im April in den Ruhestand versetzt. »Morawiecki würde am liebsten die Reformbegehren des Justizministers bremsen, aber solange Kaczyński seinen Schirm über Zbigniew Ziobro hält, sind dem Premier die Hände gebunden«, glaubt Michał Szułdrzyński, Redakteur der »Rzeczpospolita«.

Nimmt man es genau, dann begann die Amtszeit des neuen Kabinetts mit der Umbildung am 9. Januar und nicht mit dem Wechsel an der Regierungsspitze im Dezember. Die ersten hundert Tage wären demnach erst in einigen Wochen vorbei. Und dennoch: eine Verlängerung der »Gnadenfrist« wird kaum ausreichen, um die in den letzten Wochen neu entfachten Brände zu löschen.

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