Zu dicke Bretter für den DGB

Rainer Balcerowiak vermisst kämpferische Gewerkschaften. Vorbild könnten Arbeitskämpfe in Frankreich sein.

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.

In Frankreich und Deutschland gibt es derzeit Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und dem Staat als öffentlichem Arbeitgeber. Doch die Unterschiede sind erheblich. Während im Nachbarland vor allem die Lokführer mit massiven, bis Ende Juni terminierten Wellenstreiks ein zentrales Projekt der neoliberalen Macron-Regierung zu Fall bringen wollen, geht es im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen um Lohnprozente und einen Sockelbetrag für Geringverdiener. Der »Kompromiss« ist bereits jetzt ziemlich exakt absehbar - und so haben die punktuellen Warnstreiks von ver.di eher symbolischen Charakter und dienen vor allem dazu, die Basis bei Laune zu halten. Ohnehin gehören massive, unbefristete Erzwingungsstreiks seit Jahrzehnten nicht mehr zum Repertoire der DGB-Gewerkschaften, die sich vor allem der »Sozialpartnerschaft« verpflichtet fühlen und deren Spitzenfunktionäre in vielen Großbetrieben bereitwillig die Rolle des »Ko-Managements« wahrnehmen.

Was französische Lokführer jetzt mit aller Kraft verhindern wollen, haben die deutschen Gewerkschaften vor rund 25 Jahren mehr oder weniger schulterzuckend durchgewinkt. Gerne würde man das Rad der Geschichte mal zurückdrehen und ein paar Stellschrauben anders justieren.

Wir schreiben den Herbst 1993. Nachdem die Bundesregierung das Gesetzespaket zur Bahnreform vorgelegt hatte, blies die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) zum Sturm. »Mit uns wird es weder eine schleichende Privatisierung noch die Stilllegung der Strecken oder eine Absenkung der Standards für die Kollegen geben«, erklärte der GdED-Vorsitzende Rudi Schäfer und kündigte einen entschlossenen Arbeitskampf an, der solange fortgeführt werde, bis die Regierung ihre Pläne zurückziehe. Wenige Tage später begann der größte Eisenbahnerstreik der deutschen Geschichte. Nah-, Fern- und Güterverkehr wurden phasenweise lahmgelegt. Nach einigen Wochen lenkte die Bundesregierung ein und nahm nach zähen, immer wieder von Streiks begleiteten Verhandlungen wesentliche Teile der Bahnreform zurück. Dies hatte auch Auswirkungen auf weitere Privatisierungspläne, beispielsweise bei der Deutschen Post, der Lufthansa und kommunalen Versorgungsbetrieben, die nach diesem Paukenschlag nicht in der geplanten Form vorangetrieben werden konnten. Den Gewerkschaften war es gelungen, eines der Kernprojekte der neoliberalen Wende in Deutschland teilweise zu verhindern.

Bekanntlich ist die Geschichte anders verlaufen. Die DGB-Gewerkschaften haben den Reformvorhaben wenig mehr als ein paar »kritische Stellungnahmen« nebst Angeboten zur »konstruktiven Begleitung« entgegengesetzt. Streiks waren für die GdED ohnehin kein Thema, denn die damaligen Beschäftigten waren fast ausnahmslos Beamte, die in Deutschland kein Streikrecht haben. Und eine »wilde« Arbeitsniederlegung, die möglicherweise gegen geltende Gesetze verstößt, ist im Weltbild der deutschen Gewerkschaftsführungen nicht vorgesehen.

Es kam, wie es kommen musste, Reichsbahn und Bundesbahn wurden 1994 zusammengefasst und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Zahl der inländischen Beschäftigten verringerte sich in den kommenden beiden Jahrzehnten um rund 150 000 auf derzeit knapp 200 000. Über 500 Strecken wurden stillgelegt, ganze Regionen vom Fernverkehr abgekoppelt, Güterverkehrsanlagen demontiert. Im Zuge des geplanten, später aber gescheiterten Börsengangs des bundeseigenen Unternehmens wurde »gespart, bis es quietscht«. Infrastruktur und das rollende Material wurden buchstäblich zu Schrott gefahren, um das operative Ergebnis der Bahn AG für Anleger aufzuhübschen. Einzig die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer wehrte sich massiv und teilweise erfolgreich gegen diese Entwicklung, während die Führung der DGB-Eisenbahnergewerkschaft Transnet den Börsengang unterstützte und über Jahre hinweg sogar Reallohnsenkungen akzeptierte.

Ob der Kampf der französischen Lokführer zum Erfolg führt, ist derzeit noch nicht abzusehen - zumal es eben nicht um ein paar Lohnprozente, sondern gegen ein zentrales Projekt der Regierung geht. Das ist ein ganz dickes Brett, was es zu bohren gilt. Doch für derartige Bretter hat der DGB keine Bohrer in der Werkzeugkammer. Und auch deswegen haben wir jetzt Hartz IV, Rentenkürzungen und einen riesigen prekären Sektor auf dem Arbeitsmarkt.

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