Die Wiederholung ist Programm

Im Konzerthaus wurden Werke von Bach gespielt - und quicklebendig erklärt

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Namen der Akteure des Abends - Arno Lücker und Martin Lücker - lassen anderes vermuten, aber die beiden sind weder verwandt noch verschwägert. Das wurde gleich zu Beginn klargemacht. Martin Lücker, geboren 1953 in Preußisch Oldendorf, spielte im Großen Saal des Konzerthauses Bachs Fantasie und Fuge g-moll BWV 542 - an der großen Schrankorgel mit Blick auf die Notenblätter und daran vorbei zu den leeren Parkettreihen. Das Publikum saß auf der abgesenkten Orchesterbühne und im ersten Rang nahe der Orgel. Der zweite Rang hätte auch geöffnet werden können.

Die Veranstaltungen der Reihe »2 x hören« sind immer voll. Bei freier Platzwahl drängeln sich die Leute förmlich. Das Bedürfnis, Musik zu verstehen und nicht bloß zu genießen, will das Konzerthaus fördern und trifft dabei auf eine dankbare Kulisse. Der Zuspruch steigt vielleicht auch, weil dergleichen in Fernsehen und Hörfunk immer weniger vorkommt oder nur noch in aufgepeppter, auf Stars und Awards ausgerichteter Form, was eher abstößt als anzieht.

Am Ende wiederholte Martin Lücker das Werk nach ausgiebigen Erläuterungen zu Themata rings um die Komposition. Die Reprise gehört zum Bauprinzip von »2 x hören«. Arno Lücker, 1979 in Braunschweig geboren, Komponist, Musikwissenschaftler und exzellenter Entertainer, ist Begründer dieser in Berlin, vielleicht auch ganz Deutschland einzigartigen Reihe. Bei den ausgesuchten Werken und ihren Interpreten (die Besetzung geht bis zum Kammerorchester) hat er fast immer eine gute Hand gehabt.

Die Reihe ist zweigeteilt: Lücker macht »2 x hören klassisch«, Christian Jost »2 x hören zeitgenössisch«. Stets sind die Macher gut vorbereitet. Exkurse in die Musikgeschichte gehören neben Bemerkungen zu Struktur, Form und Gestaltung des Werkes zwingend dazu. Videos auf der Leinwand mit Notenbildern, erläuternden Texten etc. ergänzen das Profil der Veranstaltung.

Das Gespräch zwischen Lücker und Lücker - fachbezogen, klug, erhellend, farbig, witzig - erregte die volle Aufmerksamkeit. Erst saßen die beiden an dem kleinen Tisch und tranken gelegentlich Wasser. Dann zog es sie an den hellhölzernen Korpus der Orgel. Ja, was denn sonst? Fantasievoll sollte die Debatte sein, sprudelnd vor Gedanken. Allein die Form der »Fantasie« legte das nahe. Martin Lücker wirkte ebenso konzentriert an der Orgel mit den vier Manualen, Registrierknöpfen zu Füßen und den Fußpedalen, die bei der Fuge heftiges Treten erforderten, wie quicklebendig vor und neben dem Instrument. Charmant, schlitzohrig, schlagfertig der Typ. Keiner vom Katheder, obwohl er etliche Professuren ausgefüllt hat. Ansässig ist er in Frankfurt am Main und dort tätig als Organist an der St. Katharinenkirche. Dreimal präsentierte er bisher das gesamte Orgelwerk Bachs an verschiedenen Orten und Orgeln dem Publikum.

Im Konzerthaus sang er Motive aus der Fuge, bevor er sie spielte, oder besetzte sie - komisch - mit Knittelversen. Keine der bisweilen riskanten, heiter provozierenden Fragen des nicht minder schlagfertigen Jüngeren konnten den großen Organisten aus der Ruhe bringen. Bachs Orgelwerke seien das Schwerste, was die Barockzeit hervorgebracht habe. Etwas kühn der Satz: »Bachs Werke sind immer besser, als man sie spielen kann.«

Etliche Punkte kamen sprunghaft zur Sprache: Etwa Bachs frühes Orgelschaffen in Weimar. Werke der Italiener Corelli und Vivaldi habe er dort für Orgel adaptiert, um nicht zu sagen verbessert. Franz Liszt habe 150 Jahre später Ähnliches gemacht. Er liebte Bach. Bearbeitungen seien die beste Möglichkeit, sich die adaptierten Werke anzueignen. Nach diesem Motto verschärfte Liszt die Harmonik und beschleunigte das Melodiewerk von Fantasie und Fuge g-moll. Auf den Tod seiner ersten Frau Maria Barbara im Jahr 1720, größtes Unglück für ihn, komponierte Bach die Fantasie, ein Stück voll Schmerz, Trauer, Angedenken. Dicht gedrängt die Stimmenführung mit schreienden verminderten Septakkorden, wechselnden Tempi und Stimmungen. Frage daraufhin: Was bedeutete der Tod in der Bach-Zeit? Er war allgegenwärtig. Von den 20 Bach-Kindern in zwei Ehen erreichten nur wenige das sechste Lebensjahr. Und jedes Mal habe sich sein Leid in Arien, Chorsätzen oder Orgelstücken ausgedrückt. Exkurs zu »Theologie und Musik«, worin Martin Lücker sich bestens auskennt: Am Beispiel der Fantasie erläuterte er, warum ein Akkord als »gottlos« gelte, wenn der dazugehörige Grundton fehle. Es gäbe Beziehungen des Orgelwerks zur »Matthäuspassion«. Jesus sterbe dort in d-moll und b-moll, hier sterbe seine Frau in g-moll.

»Fantasie« und »Fuge« seien zu unterschiedlichen Zeiten komponiert worden, und obwohl das Fugenthema volkstümliche Themencharaktere über acht Minuten weg durcharbeitet, gehören beide Teile zusammen. Lustig das kleine Ratespiel. Marin Lücker sollte erraten, von wem die jeweils eingespielte Aufnahme des Bach-Werkes stamme. Keine der Einspielungen mit Karl Richter und anderen erriet er zum Gaudium der Leute und des Moderators. Seine Antwort: »Die Kollegen haben’s anders gemacht, ich bin hier und spiele.« Und er wiederholte Bachs nun noch nachhaltiger wirkende »Fantasie und Fuge« in dem großen, klangvollen Raum in einer Weise, wie sie besser kaum zu machen ist.

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