Parodie auf den sonoren Klang
Das Kammerensemble Neue Musik Berlin widmete sich an zwei Abenden einem »Neuen Realismus«
Dass es diese Gruppe gibt, ist ein Glücksfall. Das Kammerensemble Neue Musik Berlin (KNM) feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Thomas Bruns, engagiert, ideenreich, ist der Gründer und leitet die Gruppe bis heute. Kaum zu ermessen, wie viel in dieser Spanne von den Musikerinnen und Musikern geleistet worden ist. Ihre Gesichter wechselten ebenso wie die Stil- und Macharten ihres Gegenstandes, der selbst dauernd geschüttelt wurde und unerhörten Wandlungen unterworfen war. KNM steht für Sensibilität und betritt mit Vorliebe unausgefahrene Gleise. Traditionen der Moderne und Ansprüche an eine »musique engagée« zu pflegen, fühlt sich die Gruppe verpflichtet.
Das Ensemble hat sich in der Welt umgetan und verkörpert Welt, indem es Kompositionen aus allen Himmelsrichtungen spielt und mit ausländischen Solisten und Gruppen - Skandinaviern, Polen, Mexikanern, Indern, Japanern - gemeinsam arbeitet. KNM gefällt es, in ferne, etwa asiatische Regionen zu reisen und Musik aufzuspüren, die hier keiner kennt. Und das keineswegs, um »Weltmusik« durch die Schläuche von Techno-Musik zu pressen, sondern um klangliche Authentizität zu zeigen oder mit europäischen Ansprüchen zu verbinden. Überdies tritt KNM turnusmäßig auf internationalen Festivals auf, setzt sich Länderschwerpunkte und lädt dazugehörige Künstler ein. Dass es neue Konzertformate bedient und selbst kreiert, sich in der Projektarbeit inner- wie außermusikalische Themen setzt, gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Gruppe. Selbstredend produziert sie hochwertige CD-Aufnahmen.
Im Radialsystem V kam jetzt ein zweiteiliges KNM-Programm unter dem Titel »4Real«, was »Neuer Realismus« oder »Diesseitigkeit« meint, so die Auskunft im Programmheft. Der erste Abend mit Stücken von Hannes Seidl, Martin Schüttler und Jacob Ullmann sei kurz beschrieben.
»Realismus« ist eine brauchbare Kategorie. Selbst wer sie als Künstler negiert, wundert sich bisweilen, wie »realistisch« das ist, was er macht. Allgemeinste Bedeutung: Der Terminus verlängert die Reichweite der Kunst um die Beziehung zum Leben. Heutige Kunstproduzenten nehmen das mehr denn je ernst. »Realismus« in der Musik ist nicht darum vom Tisch, weil »Sozialistischer Realismus« vom Tisch ist, der auch enorm Gutes hervorbrachte (Anna Seghers, Fritz Cremer, Schostakowitsch).
Allein: »Realismus« ist verflucht weit auslegbar. Musik scheint dem Leben nicht geheuer und umgekehrt. Sie ist - aus gutem Grund - der Welt lieber fern als nahe. Aber sie kann Andeutungen geben zu dem, was besteht und so nicht weitergehen darf.
In dem Falle tat sie es ganz unspektakulär. Hannes Seidls überschrieb sein Stück »Es geht besser besser - elektronische Musik in zwei Teilen«. Sie sei aus Klängen eines Schlagers entstanden. Sie seziert solchen einmal, zum anderen lässt sie alles, was darin klingt, gleichzeitig klingen. Demontage eines Aspekts der Verblödungsindustrie. Wie das konkret aussieht? Zunächst geht eine Vierergruppe aus Flöte, Oboe, Trompete, Schlagzeug (dazu Elektronik) auf die Podestplätze und spielt nicht etwa, sondern schabt, reibt, klappert auf Holz, Fell, Blech - eine dem Schlager völlig fremde Akustik, aber in ihrer Abartigkeit dem Schwulst vergleichbar. Dann nehmen die Musiker ihre Instrumente auf, spielen, einsam, isoliert, jeder für sich, Einzeltöne, die sich geringfügig dehnen. Merkwürdigste Elektronik läuft parallel, von dem hochversierten Andre Bartetzki verantwortet. Herein knallt sie in Dur, um sich sofort mit anderem Material zu brechen. Schließlich ein Abschnitt wildesten Staccatierens bis zur Erschöpfung.
Die Stücke erklangen nicht einzeln, sondern im Set. Musik von Seidl und Schüttler wechselte einander ab. Von Schüttler kam in Set 1 »schöner leben 5 (›Nix verstehen ist besser als gar nichts‹)« für präparierte Viola mit Verstärkungen und Zuspiel, eine aus Abfällen bestehenden Parodie auf den sonoren Klang. Bratschistin Miriam Askin-Götting arbeitete äußerste Reduktionen heraus. Devise: Austreibung alles Musikantischen aus der Faktur.
Sodann ein Abschnitt, bestehend nur aus Flageoletts. Elektronik nimmt sie auf und verlängert, verändert, verformt sie. Autor wieder Hannes Seidl. Zuletzt im Set 1 erklang von Martin Schüttler »schöner leben 3« (»Girl You Know It’s True«). Heraus stach in dieser klug gestalteten, mit Rauchschwaden und weißem Licht besetzten Montage aus Flötenfragmenten (Rebecca Lenton) und elektronischen Klängen das Knistern und Summen der aufgehängten Neonröhre. Die flackert, schaltet ein und aus, als wäre sie Instrument.
Set 2 bestritten sechs Spieler mit Jacob Ullmanns »disappearing musics«. Das 30-minütige Werk entstand zwischen 1989 und 1991. Komponist und Organist Ullmann, Sohn des tapferen Bürgerrechtlers Wolfgang Ullmann, dessen Verfassungsentwurf 1990 für eine demokratische DDR vom Westen übel abgeschmettert wurde, ist in der DDR groß geworden. Ein heller, kritischer Geist. Sein fast tonloses, hochsensitives Stück kann als Antwort auf das Geschrei des Übergangs in die kapitalistische Ordnung gehört werden. Eine wunderbar durchgehörte, konsequente, in ihrer stoischen Ruhe auch verzweifelte Arbeit.
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