In Chile wächst der Unmut über Präsident Piñera

Reformen der rechtsgerichteten Regierung lösen Massendemonstrationen in den Universitätsstädten aus

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie kamen aus allen Ecken. Tausende Demonstrant_innen versammelten sich an der Plaza Italia, dem zentralen Platz in Santiago. Von den naheliegenden streikenden Universitäten strömten Kolonnen von Studierenden. Kurz darauf setzte sich der Demozug in Bewegung. Immer mehr Menschen strömen in Richtung Plaza Italia, um am Freitag an der ersten großen Demonstration dieses Jahres teilzunehmen. Doch schon nach kurzer Zeit begannen die Augen zu tränen - erste Anzeichen des Einsatzes von »Stinktieren und Lamas«, so werden in Chile Tränengasautos und Wasserwerfer genannt. Diese greifen nach ein paar Hundert Metern den Demozug an.

Auch an der Bühne, auf der ein Konzert stattfinden sollte, setzt die Polizei tränengasgetränktes Wasser und gelbes Gas ein, worauf sich die Menge in alle Himmelsrichtungen auflöst. Bei dem darauf folgenden Chaos wurde laut Angaben der Studierendenorganisation CONFECH ein Demonstrant von einem Polizeiauto überfahren; er liegt derzeit mit Lebensgefahr im Krankenhaus. Weiterhin spricht die Organisation von irregulären Festnahmen und Übergriffen gegenüber Festgenommenen. Parlamentarier des linken Koalitionsbündnis »Frente Amplio« reichten Beschwerde wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung bei der »Contraloria«, der staatsinternen Kontrollbehörde, ein.

Das neue neue Jahr der Proteste hatte am Donnerstag begonnen. Einen Monat nach dem Amtsantritt Sebastián Piñeras gingen um elf Uhr morgens in allen Universitätsstädten Chiles Tausende Studierende, Schüler_innen und Lehrer_innen auf die Straße. Allein in Santiago sollen es rund 120 000 gewesen sein. Ihre Proteste richten sich gegen die neoliberale und erzkonservative Politik der Regierung; sie fordern eine Bildung frei von Profit und Sexismus. Auch wenn nun viele ein Wiederaufleben der Protestwelle von 2011 sehen wollen, ist es bisher vor allem die Repression, die an damals erinnert.

Angestachelt zur erneuten Mobilisierung hatten die ersten Reformen der rechtsgerichteten Regierung. Diese begrub innerhalb von einem Monat so gut wie alle Fortschritte der Vorgängerregierung unter der Sozialdemokratin Michelle Bachelet - nicht nur in der Bildung, sondern auch bei Frauenrechten. Zudem sorgen ihre Maßnahmen bei Themen wie Migration und Steuern sowie das Antiterrorgesetz für Aufsehen.

Kurz nach Amtsantritt der Regierung erklärte das rechts dominierte Verfassungsgericht das Verbot von profitorientierten Unternehmen im Bildungssektor für unzulässig. Das hatte die Bachelet-Regierung verhängt. Auch die von ihr erteilte Erlaubnis von Abtreibungen im Falle von vermuteter Totgeburt, Lebensgefahr der Mutter und Vergewaltigung wurde von der Piñera-Regierung eingeschränkt. Spitälern ist nun erlaubt, sich generell der Durchführung dieser Operation zu verweigern. Zudem gibt es zurzeit Städte, in denen sich alle Ärzte aus »Gewissensgründen« weigern, eine Abtreibung durchzuführen.

Präsident Piñera regiert derzeit vor allem mit Dekreten, weil er in keiner der zwei Kammern des Kongresses auf eine Mehrheit zurückgreifen kann. Ein Erlass verschafft Großgrundbesitzer millionenteure Steuergeschenke - als Ausgleich für die derzeitige Exportflaute bei Früchten. Außerdem verfügt die Regierung Einreisebeschränkungen für Migrant_innen. Das betrifft vor allem Menschen aus Haiti, die seit neuem sogar ein Touristenvisum in der Botschaft beantragen müssen.

In Chile selbst sind die indigenen Mapuche weiter im Visier. Mapuche-Organisationen warnen vor einer Erweiterung des Antiterrorgesetzes aus der Zeit der Pinochet-Diktatur zwischen 1973 und 1990. Sie beschweren sich, dass die Regierung beim Hungerstreik eines inhaftierten Machi - eines spirituellen Oberhauptes - passiv bleibt. Der Machi Celestino Cordova, der sich seit fast 100 Tagen im Hungerstreik befindet, verlangt, für 48 Stunden in seine Gemeinde gelassen zu werden, um spirituell »aufzutanken«. Er beruft sich dabei auf internationale Gesetze, die es ihm garantierten, seine religiöse Funktion erfüllen zu können.

Laut Andair Fuentes, einem Studenten an der Universidad de Chile in der Hauptstadt Santiago, steht die Opposition noch am Anfang ihrer Formierung gegen die Politik der rechten Regierung: »Der Widerstand ist da, jedoch muss man sich noch auf gemeinsame und klare Forderungen einigen.«

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