Guten Morgen, erster Mai!

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In einer seiner guten Lieder dichtete Wolf Biermann einst treffend: »Guten Morgen, guten Morgen, erster Mai ... draußen zieht der Krieg vorbei«. Das war in den 1970er Jahren, als dieses Lied entstand (es ist ein Kinderlied, veröffentlicht auf dem Album »Der Friedensclown«, 1977) ein Affront gegen die SED. Biermann beschreibt, wie er mit Kind und Frau am Frühstückstisch in seiner Ostberliner Wohnung sitzt, während auf der Straße die Schalmeien erklingen und die Partei-Oberen die jährliche Erste-Mai-Parade abnehmen.

Ein Jahrzehnt, Biermann hatte man mittlerweile ausgewiesen, in der UdSSR gab es mit Michail Gorbatschow, Perestroika und Glasnost den Beginn eines gesellschaftlichen und politischen Wandels, liefen die Paraden in Berlin, der Hauptstadt der DDR, immer noch so ab, wie in Biermanns Kinderlied beschrieben. Doch es hatte sich auch etwas geändert. Am 1. Mai 1988 hing auf einem Dach neben dem U-Bahnhof Schönhauser Allee ein selbst gefertigtes Transparent 8 x 2 Meter: gelber Stoff, grüne Schrift: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!« war darauf zu lesen. Diese Losung zählte jahrzehntelang zum Grundkonsens im Lande und wurde von der SED gebetsmühlenartig derart oft wiederholt, dass sie immer wenige noch für ernst nahmen. Ein Jahr vorher war die Losung von der Parteiführung aber aus dem Kanon gestrichen worden - wegen Gorbatschow!

Drei junge Männer (Mitte 30) aus Prenzlauer Berg brachte dies auf die Idee, die fehlende Losung nachzureichen: Dietmar Halbhuber (Journalist), Thomas Wernicke (Kunstlehrer), Wilfried Bergholz (Schriftsteller, dem wir auch den Hinweis und die folgenden Informationen zu dem Ereignis vor 30 Jahren verdanken).

»Da ich in der Schönhauser wohnte (und heute noch wohne) stiegen ich und Wernicke in der Nacht zum 1. Mai über eine Luke auf das Dach der Nr. 71 (wo im Sommer mein Schreibtisch stand), dann von Haus zu Haus bis zum geplanten Standort in der 72 B, dem einzigen schrägen Dach (unten war die «Jugendmode»). Ein guter Ort direkt am U-Bahnhof. Über das morsche Trittbrett des Schornsteinfegers ging es voran. Halbhuber stand unten Schmiere und sollte pfeifen - bei Gefahr. Alles ging gut. Am Morgen trafen sich alle in meiner Wohnung zu einem «russischen Frühstück»: Wodka, Speck und grüne Äpfel. Erst im zweiten Anlauf (die erste Leiter war zu kurz) konnte das Transparent entfernt werden, kurz vor elf Uhr. Aber alle, die zur Demonstration in die Stadt gefahren waren, hatten es doch gesehen. Später folgten drei Tage Dunkelhaft.« jam Foto: Wilfried Bergholz

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