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Der »Himmelfahrtsstraße« entflohen

Aleksandr Petscherski hinterließ einen erschütternden Bericht über das Vernichtungslager Sobibór und seine Flucht

  • Daniela Fuchs
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit zittriger Hand und daher in schwer entzifferbarer Schrift schrieb Aleksandr Petscherski seine Erlebnisse während seiner Kriegsgefangenschaft bei den Deutschen im Vernichtungslager Sobibór auf kleine Papierfetzen. Als Zeugnis für die Nachwelt. Sie wurden bereits kurz nach dem Krieg veröffentlicht. Doch er feilte immer und immer wieder an seinem Erinnerungstext, unzufrieden mit jeder Fassung. Wie kann man auch die Schrecken, die er und Hunderttausende andere Menschen erlitten, in klare Worte fassen? Werden die Nachgeborenen das Geschehen verstehen? Der nun auch auf Deutsch vorliegende Bericht erschien zunächst 2013 in Russland. Er wurde wissenschaftlich bearbeitet, auch um der Lesbarkeit und Verständlichkeit willen.

Aleksandr Aronowitsch Petscherski war 32 Jahre alt, als Hitlerdeutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Am selben Tag wurde er als Leutnant in die Rote Armee eingezogen. Er ließ sein bisheriges ziviles Leben hinter sich, zu dem Töchterchen Eleonora gehörte, ungewiss, wann er wiederkehren würde. Petscherski, ein Rechtsanwaltssohn aus jüdischer Familie, die aus Krementschuk in der Ukraine stammt und nach Rostow am Don übersiedelte, hatte zunächst als Elektriker und Buchhalter in einem Lokomotivenausbesserungswerk gearbeitet und später Musik und Theaterwissenschaft studiert. Nach nur wenigen Monaten geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde nach einem missglückten Fluchtversuch im Stalag 352, dem sogenannten Waldlager bei Minsk, inhaftiert. In diesem berüchtigten Lager starben von 1941 bis 1944 etwa 80 000 Kriegsgefangene.

Zusammen mit anderen jüdischen Kameraden wurde Petscherski später in das Vernichtungslager Sobibór im deutsch besetzten Polen deportiert, dem sogenannten Generalgouvernement unweit der weißrussischen Grenze. Die Gruppe traf dort am 22./23. September 1943 ein.

Sobibór gehörte neben Treblinka und Belzec zu den Lagern, die unter dem Tarnnamen »Aktion Reinhardt« der Vernichtung der europäischen Juden dienten. Nach der Ankunft der Züge mussten sich die Menschen entkleiden und wurden dann in die Gaskammern getrieben. »Himmelfahrtsstraße« nannten die Nazis zynisch diesen letzten Weg. Nur wenige der Ankömmlinge erhielten einen kurzen Lebensaufschub, weil die SS Häftlinge für die Aufrechterhaltung des Lagerbetriebes benötigte. Diese »Arbeitsjuden« schöpften einen Funken Hoffnung, als die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen in Sobibór eintrafen, waren jene doch an der Front gewesen und besaßen Gefechtserfahrung. Sie wüssten vielleicht, wie man der Lagerhölle entkommen könnte. Alle Fluchtversuche einzelner Häftlinge waren bislang fehlgeschlagen und hatten nicht nur für die wieder eingefangenen, sondern auch für viele unbeteiligte Lagerinsassen tödliche Konsequenzen.

Petscherski schildert eindrucksvoll seine vorsichtige Kontaktaufnahme zu Leon Feldhendler, genannt »Boruch«, Sohn eines polnischen Rabbiners, der das Vertrauen der Kameradinnen und Kameraden im Lager besaß. In strengster Konspiration und unter enormem Zeitdruck entwickelten sie einen Fluchtplan, der einfach und genial war. Petscherski ging davon aus, dass nur eine Flucht aller Insassen des Lagers Erfolg haben könnte. Am 14. Oktober 1943 war es soweit. Eine kleine Gruppe Eingeweihter lockte innerhalb einer Stunde zwölf SS-Männer in die Werkstätten. Dort wurden sie getötet und entwaffnet. Ebenso starben zehn Trawniki-Männer, ukrainische Hilfswillige. Telefon- und Stromleitungen wurden durchschnitten. Leider gelang es nicht, den berüchtigten SS-Oberscharführer Karl Frenzel zu »liquidieren«. Der zweite Teil des Plans, die Häftlinge zum Appell antreten zu lassen und sie geordnet aus dem Haupttor zu führen, endete im Chaos. Petscherski erinnert sich: »Wie ein Donnergrollen breiteten sich im Todeslager die Schreie der Menschen aus. 600 Menschen, gequält, voller Sehnsucht nach der Freiheit, stürzten mit ›Hurra‹-Schreien vorwärts.«

Etwa 360 Häftlingen gelang die Flucht. Viele starben auf dem kurzen Stück zwischen Lager und dem angrenzenden Wald im Kugelhagel der sie verfolgenden SS-Männer oder durch explodierende Minen, mit denen das KZ umgeben war. Überliefert ist, dass viele Häftlinge, die der SS entwischt waren, später von der Heimatarmee, der größten polnischen Widerstandsarmee, aus Judenhass ermordet wurden. Schätzungen gehen davon aus, dass 54 Männer und acht Frauen das Kriegsende erlebten. Das Lager wurde nach der Massenflucht eingeebnet. Eine dort errichtete Bauernwirtschaft sollte Idylle vorgaukeln und das einstige grausige Geschehen verdecken.

Aleksandr Petscherski schlug sich auf weißrussisches Gebiet durch und schloss sich zunächst Partisanen und später der Roten Armee an. Da in Stalins Verständnis Kriegsgefangene Verräter waren, folgte für ihn die Versetzung in ein Strafbataillon, wo er verwundet wurde. Nach dem Krieg lebte er in ärmlichen Verhältnissen und wurde wegen Kontakten zu Überlebenden des Aufstandes im westlichen Ausland aus der KPdSU ausgeschlossen. Erst nach Stalins Tod ging es für ihn beruflich aufwärts, doch eine Reiseerlaubnis zur Einweihung der Gedenkstätte in Sobibór oder zu den Sobibór-Prozessen in der Bundesrepublik erhielt er von seiner Heimat nicht. Ebenso blieb ihm 1987 der Premierenbesuch des britisch-jugoslawischen Films »Die Flucht aus Sobibór«, in dem er von Rutger Hauer dargestellt wird, versagt. Aleksandr Petscherski starb 1990. Heute erinnern an ihn in Rostow am Don eine Straße und eine Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus.

Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibór. Hg. u. übers. v. Ingrid Damerow. Metropol-Verlag, 136 S., br., 19 €.

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