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Angstfrei leben und lieben

Der ostdeutsche Sexualwissenschaftler Kurt Starke wird 80

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 31. Mai 1990 wurde Kurt Starke in West wie Ost auf einen Schlag berühmt. »Orgasmusprofessor spinnt«, titelte »BILD« und suchte eine These zu widerlegen, die sie tags zuvor aufgestellt hatte. »DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus«, schrieb das Blatt. Die Behauptung beruhte auf einem Artikel, den Starke mit seinem Hamburger Kollegen Ulrich Clement verfasst und 1988 in der »Zeitschrift für Sexualforschung« publiziert hatte - unerlaubt, wie er anmerkt. Darin flossen Erkenntnisse ein, die er und seine Kollegen vom Leipziger »Zentralinstitut für Jugendforschung« (ZIJ) 1980 in ihrer zweiten großen Partnerstudie gewannen und die das Boulevardblatt recht frei interpretierte.

Ein wenig hängt ihm der »Orgasmusprofessor« bis heute an. Auch als »Sex-Papst« wird er gern bezeichnet. Beides könnte unzutreffender nicht sein. Wer sich mit Starke, der an diesem Sonntag 80 Jahre alt wird, über sein Selbstverständnis als Sexualwissenschaftler unterhält, bekommt den denkwürdigen Satz zu hören, dass »das sexuelle Primärverhalten ja eher langweilig« sei. Er erforsche stattdessen lieber »Dinge, die in der klassischen Sexualwissenschaft nicht vorkommen« oder, wie im legendären Kinsey-Report, höchstens in der Fußnote zu Petting erwähnt werden: die Liebe nämlich; die emotionalen Bindungen, die so wichtig dafür sind, wie oft und welche Art Sex Menschen haben. Fachkollegen wundern sich gelegentlich, dass bei seinen Erhebungen Fragen über Liebe eine so wichtige Rolle spielen: »Mancher hielt das für romantischen Quark.« Starke aber findet selbst die Frage, was Menschen im Bett anhaben, spannender als eine weitere extravagante Stellung beim Verkehr. Verfechter einer reinen Lehre mögen indigniert die Brauen heben. Starke aber zieht Wissen über soziale und kulturelle Entwicklungen auch aus scheinbar nebensächlichen Beobachtungen wie der, dass junge Frauen heute eher nackt als im Nachthemd schlafen.

Als Starke Ende der 1950er Jahre in Leipzig Journalistik studierte, hatte man sich nicht nur im Bett sittsam zu kleiden, sondern als Student wie Oberschüler auch der Liebe zu enthalten. Pärchenbildung im Internat war als kleinbürgerlich verpönt und, weil dem Lernerfolg nicht zuträglich, verboten - »was wir als diktatorisch und zutiefst ungerecht empfanden«, sagt Starke, der sich im Wohnheim verliebte - in die Frau, mit der er dieses Jahr Diamantene Hochzeit feiert. Er sieht in der Erfahrung auch ein persönliches Motiv für seinen späteren beruflichen Werdegang. Der führte Starke, der sich zunehmend für die neu aufkommende Soziologie begeisterte, nach einer Studie über die Wirksamkeit von Medien zunächst zu journalistischer Arbeit bei den Zeitschriften »Zeit im Bild« und »NBI«. 1967 aber unternahm er den »entscheidenden Schritt meines Lebens« und ging an das im Jahr zuvor gegründete ZIJ, wo unter Leitung von Walter Friedrich ein Kollektiv aus Soziologen, Pädagogen, Kulturwissenschaftlern und anderen Fachleuten die Gemütslage der DDR-Jugend erkundete - oft nicht zur Erbauung der Partei- und Staatsführung. Ein 1969 erschienenes »Handbuch der Jugendforschung« wurde eingestampft, eine Zeitschrift zum Thema umgehend eingestellt. Sexualität spielte zu dem Zeitpunkt noch keine Rolle.

Das änderte sich ab 1970. Die Pille trat den Siegeszug an; der Schwangerschaftsabbruch wurde legalisiert, und die SED beschloss auf ihrem VIII. Parteitag ein »Sozialpolitisches Programm«, das auch vorsah, Studenten mit Kind zu fördern - über die man indes wenig wusste. Starke, zuständiger Abteilungsleiter am ZIJ, konzipierte die Studie »Partner 72«. Diese wurde zur ersten von insgesamt vier groß angelegten Erhebungen im Laufe der nächsten 30 Jahre und fragte erstmals auch nach sexuellen Dingen - weil man »über Jugend nicht forschen kann, ohne über Partnerschaft, Familie und Sexualität zu reden«.

Die Ergebnisse sorgten für Erstaunen und zeugten von einer bemerkenswerten Liberalität in Liebesdingen: Der in jener Zeit noch immer verpönte »voreheliche Geschlechtsverkehr« war unter jungen Menschen die Regel. Auch Frauen nahmen sich die Freiheit, mit demjenigen ins Bett zu gehen, den sie liebten. Starke hat damals grundlegende Einsichten gewonnen, die seine Arbeit bis heute prägen. Zum einen: Man möge »keine Angst vor Liebesbeziehungen unter Jugendlichen« haben. Deren Vorstellung von der romantischen Liebe sei »nicht totzukriegen«, bekundet Starke, der lediglich anmerkt, es mache ihn »nicht froh«, dass Jugendliche ihm gegenüber bei Gesprächen in Schulen heute manchmal die Sorge äußern, sie könnten zu viel Zeit in eine Beziehung und zu wenig in das Lernen stecken. Was aber, fragt Starke, »ist eine Vier in Mathe gegen dieses wunderbare Gefühl der Liebe?!«. Von Kulturpessimismus indes hält er nichts. Grundvertrauen in junge Menschen prägte auch seine 2010 vorgelegte, stark beachtete Studie über »Pornografie und Jugend«, der zufolge sich eine schädliche Wirkung nicht belegen lasse. Jugendliche »entscheiden klar, was sie interessiert und was nicht«, sagte Starke vor vier Jahren im Interview mit der Zeitschrift »brand eins«. Dass Erwachsene ihnen die Entscheidung abnehmen wollten, nannte er damals »eine unerhörte Übergriffigkeit«.

Die zweite Erkenntnis, die Starke vor 30 Jahren gewonnen und seither stets bestätigt gefunden hat, ist: Frau und Mann passen zusammen. Oder, wie er es sagt: Der »elitäre Diskurs über Geschlechter«, der den Mann als Feind und den Penis als Waffe brandmarke, sei »an unseren empirischen Ergebnissen schon in den 70er Jahren zerschellt«. In der DDR - und vielfach auch noch heute im Osten - hätten sich Frauen und Männer meist als Partner verstanden, die »gemeinsame Sache« machten - was Gründe auch in einem ausgeprägten Selbstbewusstsein der DDR-Frauen habe, die wirtschaftlich unabhängig, sozial abgesichert und daher »angstfrei« gelebt und geliebt hätten. Wer so aufgewachsen sei, könne mit einer »applizierten Feindseligkeit zwischen den Geschlechtern« bis heute wenig anfangen, sagt Starke, der einräumt, auch ihm selbst seien »viele der heutigen Debatten fremd«.

Dabei ist Starke, trotz schwieriger Bedingungen nach dem Ende des ZIJ im Jahr 1990, bis heute aktiv: als Forscher, der mit den kritischen Sexualwissenschaftlern im Westen wie Gunter Schmidt, Volkmar Sigusch und Rüdiger Lautmann in engem Austausch steht, der es freilich auch bedauert, dass heute »viel über Sexualität geredet, aber nur wenig Geld für ihre Erforschung bereitgestellt wird«. Er selbst ist emsiger Vermittler wissenschaftlicher Erkenntnisse: Fast 20 Jahre gestaltete Starke die MDR-Radiosendung »Liebe, Liebe«; die Zeitschrift »Super Illu« druckte 700 Kolumnen von ihm. »Der Drang, meine Erkenntnisse unter die Leute zu bringen, über die ich forsche«, sagt er, »ist ungebrochen.« Das Gleiche gilt für seine wissenschaftliche Neugier. Er würde, sagt er, gern zur Frage arbeiten, welche Folgen große Entwicklungen wie Globalisierung und Neoliberalismus haben auf das »Vermögen der Menschen, sich zu mögen«. Er wüsste gern, ob das Verhältnis der Geschlechter nicht wieder zärtlicher wird. Es würde ihn freuen - den Sexualwissenschaftler, den man einen »Liebesforscher« nennen kann.

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