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Barock ist Rock

Mit großem musikalischem und szenischem Atem: Georg Friedrich Händels »Semele« an der Komischen Oper Berlin

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Händels Musik spaltet. Den einen glühen die Ohren bei halsbrecherischen Koloraturarien, geht das Herz auf unter den Sehnsuchtsbögen seiner Melodien, leuchten die Augen bei seinen Chören. Die anderen finden ihn langweilig. Vermutlich zählt, wer sich eine Karte für eine Händel-Oper kauft, zu ersterer Kategorie. Trotzdem, gelangweilt hat sich wohl keiner in Barrie Koskys Inszenierung der »Semele«. Im Gegenteil: am Ende Beifallsstürme.

»Semele« ist eigentlich keine Oper, obwohl man sie unter die besten zählen kann, die der Meister komponierte. Mit der Opera seria hatte Händel zum Zeitpunkt der Entstehung bereits abgeschlossen; erfolgreicher - und billiger in der Realisierung - waren die Oratorien. Bei »Semele« hat ihn die alte Leidenschaft womöglich aber doch wieder gepackt: Er komponierte »nach Art eines Oratoriums« ein Opernlibretto. William Congreve, Freund von Jonathan Swift, hatte es 40 Jahre zuvor nach einer der »Metamorphosen« des Ovid geschrieben, aber kein Komponist wollte es: zu kraus die Story, komisch, tragisch, aufrührerisch zugleich.

Kraus dann auch die musikalische Form. Es gibt viele Chöre, Ensembleszenen, verschieden geformte Rezitative und reichlich von der guten alten Da-capo-Arie. Konrad Junghänel konnte mit einem Spezialisten-Continuo-Ensemble und den Musikern der Komischen Oper Schwung holen für den großen Atem, fein ziseliert an Rezitativ-Formen arbeiten, sinnliches Girren von sattem Liebesschwelgen klanglich unterscheiden, Luft und Leben in jeden einzelnen Takt geben, reichliches Kreischen, Klatschen, Juchzen auf der Bühne akzeptieren und verfeinert im Graben zelebrieren. Barock sei Rock, sagt er, und spielte auch so.

»Semele« handelt von leichtgläubiger Eitelkeit und umstürzender liebender Unbedingtheit, vom Aufbegehren gegen »naturgewollte« Ordnung in der gesellschaftlichen Hierarchie, von so Unkontrollierbarem wie Schlaf, Traum, Tod und Verwandlung. Königstochter Semele soll nach dynastischen Gesichtspunkten heiraten, liebt aber keinen Geringeren als den obersten der Götter, Jupiter. Nach ihrem Bräutigam wiederum verzehrt sich schönstimmig Katarina Bradič, Semeles Schwester Ino. Semele wird am Hochzeitstag von Jupiter entrückt. Auf hohem Berg gut bewacht, genießen die beiden einander, herrlich und in Freuden. In Semele aber bohrt es. Kaum muss ihr die eifersüchtige Göttergattin Juno noch einflüstern, sie solle von Jupiter verlangen, sich ihr einmal in seiner wahren göttlichen Gestalt zu zeigen. Semele nötigt ihm den Liebesschwur ab, ihr jeden Wunsch zu erfüllen; er kann nicht zurück und weiß doch, er wird sie töten. Selbst unter dem schwächsten seiner Blitze verbrennt sie zu Asche.

Es folgt der moralisch-absolutistische Schlusschor: Wer sich überhebt, geht zugrunde. Bleib, wo du hingehörst!

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Semele war schwanger, Jupiter näht sich den Fötus in den Oberschenkel und wird den Dionysos gebären, den gefährlichen Gott des Rausches, der Entgrenztheit. Er ist der wahre Sohn seiner Mutter; sie singt, Jupiters Warnung zum Trotz: »I’ll take no less than all in full excess.« - »Nicht weniger als alles« will sie, »in vollem Überschwang«.

Wenn Nicole Chevalier diese Arie singt, tanzt, schwebt, torkelt, in den Koloraturen rast, dann ist diese grandiose Sängerin-Darstellerin in vollem Überschwang in ihrem Element. Zwar als indisponiert gemeldet, erfüllte sie doch ganz und gar ihre Rolle, sang sich durch Frivolität, erfüllte Liebe, dumme Eitelkeit, Unbedingtheit bis zum verhauchenden Todesweh.

Genauso ergreifend, technisch exzellent und doch gefühlstief Allan Clayton als Jupiter. Seine Liebesarie war der Gänsehautmoment der Aufführung. Auch alle anderen Solisten inklusive der Chorsolisten geradezu ideal besetzt. Vokale Ausstrahlung, Spiel, selbst die Physis der Sänger konnte kaum besser passen.

Die Bühne von Natascha Le Guen de Kerneizon ist ein ausgebranntes Barockschloss, schwarz. Aus einem Aschehaufen erhebt sich Semele, Barrie Kosky lässt sie ihre Geschichte als Rückblick erzählen. Am Ende sitzt sie, an allen Gliedern verbrannt und traurig, auf dem Kaminsims und schaut der Alles-ist-gut-Hochzeit ihrer Schwester zu. Die Götter verlassen das Spiel.

Kosky führt seine Figuren in schönster Tradition der Komischen Oper: psychologisch glaubhaft, intensiv in ihren Beziehungen, wo es passt, auch kräftig auftrumpfend. Dabei streift er schon mal, immer geschmackvoll bleibend, zart das Chargenhafte. Bei ihm ist ordentlich Oper, Puristen dürfen ein ganz klein wenig leiden.

Nächste Vorstellung am 18. Mai

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