Lernen, aufrecht zu gehen

Es steckt mehr Protest und Umsturzpotenzial in deutschen Studierenden, als man denkt

  • Isidor Grim
  • Lesedauer: 7 Min.

Rosa Ryczko sieht so ähnlich aus und spricht auch so mitreißend wie ihr US-amerikanisches Spiegelbild Marjory Stoneman von jener High School in Florida, wo bei dem Amoklauf im Februar 17 ihrer Mitschüler erschossen wurden. Wie Marjory steht auch Rosa im studentischen Kampf. Ihr Anliegen ist gerechte Bezahlung für studentische Hilfskräfte, ohne die an deutschen Universitäten nichts läuft. »Unser Tarifvertrag wurde vor 32 Jahren erstreikt. Und so kämpfen wir jetzt wieder dafür, dass Studis, die an der Uni arbeiten, fair entlohnt werden. Studentische Hilfskräfte sind doppelt und dreifach belastet«, erklärt sie. »Von den 11 Euro pro Stunde können sie nicht leben und brauchen oft noch einen zweiten Job neben dem Studium! Sie sind überall und nirgends an der Uni, haben keine Büros, keine geregelten Arbeitszeiten, keinerlei Streikerfahrung; dazu kommen Karriereängste, denn oft jobben sie bei denselben Professoren, bei denen sie später auf eine Stelle hoffen.«

Viele studentischen Proteste und politischen Aktionen gehen von der organisierten Studentenschaft aus, von den ASten, Studierendenräten und -parlamenten und vom fzs. Dem fzs, dem Freien Zusammenschluss Studierender in Deutschland, gehören gut ein Viertel der Studentenvertretungen von landesweit 400 Universitäten an, hinzu kommen die ungezählten unabhängigen Gruppierungen in den Universitäten, die sich gegen Sexismus am Campus, für bezahlbares Wohnen, gegen Studiengebühren für Ausländer usw. engagieren.

Leben trotz Studium?!

Studieren - das ist nicht nur Wissenserwerb, Vorbereitung auf den Beruf, ein neuer Lebensabschnitt. Es ist auch ein großer Crashtest, denn alles muss neu sortiert werden. Wie finden Studierende eine bezahlbare Wohnung? Wer finanziert ihre Ausbildung? Wie machen ihnen Stress und Leistungsdruck zu schaffen? Was bedeutet es, zu studieren und gleichzeitig ein Kind großzuziehen? Wie geht es dem universitären Prekariat, das einen erheblichen Teil der Hochschulausbildung trägt? Wie sind die Jobaussichten nach dem Abschluss? Diesen und anderen Fragen gehen wir in einer nd-Serie nach - jeden Mittwoch.

Im letzten Studienjahr wurde viel auf die Beine gestellt. Der große Protest und die Besetzung der Hamburger HafenCity-Universität im April und Mai etwa. Es ging um die Kanzlerin Stephanie Egerland, die radikal Stellen abgebaut, immer mehr Macht auf die Hochschulleitung konzentriert und absurde Regeln aufstellt hatte, die zu prekären Arbeitsbedingungen führten. »Schikane und Mobbing« habe »Angst und Stillschweigen« an der Universität zur Folge, erklärten die Studierenden und forderten die Abwahl Egerlands. Der Bund Deutscher Architekten beschwerte sich sogar in einem offenen Brief über die »desolate Situation« an der Uni, die schlechte Ausbildung, die fehlenden Stellen. Viele Professorinnen und Professoren hätten die Causa mit Lippenbekenntnissen unterstützt, am Ende versagte die Professorenschaft jedoch und wählte die Bildungsmanagerin wieder ins Amt. Die Zweite Bürgermeisterin der Stadt Katharina Fegebank (Grüne) hielt den Mund dazu.

Wichtig angesichts des heutigen Klimas der Fremdenfeindlichkeit sind auch die Proteste gegen den rechtsradikalen Juraprofessor Thomas Rauscher an der Universität Leipzig. Der Mann ist, wie Donald Trump, sehr aktiv auf Twitter und tritt für ein »weißes Europa« und gegen die »ungehemmte Vermehrung von Afrikanern und Arabern« ein. Hunderte Studierende sprengten seine Vorlesungen und verlasen seine rassistischen und homophoben Tweets. Die Hochschulleitung distanzierte sich zwar von dem »menschenfeindlichen Weltbild« ihres Angestellten, ließ ihn aber im Amt, von wo aus er weiter agitieren kann.

Zur Zeit bemühen sich nordrhein-westfälische Studenten, die Studiengebühren von 1500 Euro für Ausländer abzuwenden. Ihre Petition gegen diese Form des institutionellen Rassismus fand 7500 Unterstützer und wurde vergangene Woche an Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen übergeben. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag nämlich auf die Einführung von Gebühren für Studierende aus Drittstaaten geeinigt. Man möchte es Baden-Württemberg nachtun, wo die Grünen solche Gebühren bereits eingeführt und dafür gesorgt haben, dass die Einschreibungen von Studenten ohne EU-Pass um ein Fünftel zurückgegangen sind. Die Gebühren seien so unnötig wie ein Kropf, sagte die SPD-Abgeordnete Gabi Rolland dazu: »Viel Aufwand, wenig Ertrag - und viel verbrannte Erde.« Doch es werden mehr studentische Aktionen folgen: eine Demonstration in Münster und ein Aktionstag gegen das Hochschulgesetz in Köln sind angesagt.

Anfang Juni trafen sich mehr als hundert Hochschulangestellte und Studierende in Berlin. Ihr Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) diskutierte die Frage »Wie streikfähig werden?«, Zu Gast war unter anderem Nicole Wolf, die in England lehrt und von den dortigen seit Monaten anhaltenden Streiks berichtete. Viele Studierende solidarisierten sich mit den Streiks an über 60 Universitäten, die durch Rentenkürzungen für Dozenten ausgelöst worden waren. Bald aber ging es um die fortschreitende Neoliberalisierung der Hochschulen überhaupt, um Studiengebühren und Verschuldung, um die Kluft zwischen den Geschlechtern und den Generationen: Frauen, Ausländer und jüngere Dozenten erhalten oft weniger Gehalt und schlechtere Verträge, während der Uni-Präsident Patrick Loughrey - »Fat Cat Pat« wie Studenten ihn nennen - ein Jahresgehalt von 400 000 Pfund einfährt. »Wir haben gesehen, wie engagiert Studierende sind: Jeden Morgen haben sie um 7 Uhr eine Teeküche für die Streikposten aufgestellt und sich an den Aktionen beteiligt. Der Streik ging weiter, er solidarisierte sich mit dem Streik der Sexarbeiterinnen, mit dem Streik der Reinigungskräfte, es gab Konzerte, um uns in der eisigen Kälte warmzuhalten. Die Streikposten wurden zu einem pädagogischen Möglichkeitsraum, denn gerade Studenten wissen oft viel zu wenig, wie viel sie mit Streiks bewirken können.«

Professor a. D. Peter Grottian, das Urgestein studentischer Revolte, der vom politikwissenschaftlichen Instituts der FU Berlin aus den Bildungsstreik 2008/2009 mitorganisiert hatte, unterstützt die Initiative der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er hat unter Kollegen 5000 Euro für die Streikkasse gesammelt, warnt aber ansonsten davor, der Professorenschaft zu vertrauen. Er ist auch dagegen, sich zu sehr auf die Gewerkschaften GEW und ver.di zu verlassen: »Sie treten in Tarifverhandlungen fast gar nicht gegen die Ausbeutung an den Hochschulen ein. Viel wichtiger ist, dass sich die Beschäftigten der Hochschulen mit den Studierenden solidarisieren. Da liegt das Potenzial eines neuen Bildungsstreiks im Mai 2019!«

Auf dem Netzwerktreffen war auch Kolja Lindner, der in Frankreich lehrt und an den dortigen Studentenprotesten gegen das neue selektive Bewerbungsverfahren »Parcoursup« teilgenommen hat. Er sagt: »Es muss mehr Konfliktbewusstsein in die Hochschulen gebracht werden. Wir müssen beginnen, uns als Wissensarbeiter und Lohnabhängige zu begreifen und den Idealismus der Selbstverwirklichung abstreifen. Die Professoren sind nicht unsere Freunde, sondern unsere Arbeitgeber. Auch müssen wir Betriebsanalysen machen: Wer ist verantwortlich, wo liegt die Entscheidungsfähigkeit? Bei Professoren, in Institutsräten, im Präsidialamt? - Damit sie sich nicht auf höhere Ebenen rausreden können! Auch das Zurückhalten von Noten ist eine sehr gute Methode, um die Universität unter Druck zu setzen, dann sieht sie auch, wie abhängig sie vom Mittelbau und den studentischen Beschäftigten tatsächlich ist.«

Bei den Protesten in Frankreich wurden über die Hälfte aller Universitäten bestreikt und besetzt - und die Examen verhindert. Der Studierendenverband UNEF organisierte Konzerte, um die Demonstrationen zu finanzieren, und hilft jetzt noch vielen Studienanfängern, die wegen des neuen Systems ohne Studienplatz blieben, einen zu finden. »Es fehlen 240 000 Studienplätze«, berichtet Cleménce Dollé vom UNEF. »Die liberale Regierung Macron hat sogar angedroht, die zweiten Termine der Jahresabschlussprüfungen (per Gesetz müssen französische Studenten eine zweite Chance bekommen, wenn sie die Prüfung beim ersten Mal nicht bestehen) abzuschaffen, um Mittel einzusparen.« Emmanuel Macron, berichtet Dollé, der seine große Europarede im Herbst vor Studenten der Sorbonne hielt, »hat sich vor uns versteckt. Er sagte im April lediglich, es werde keine Examen mit Schokolade geben, wir sollten uns lieber zum Lernen hinsetzen. Der Innenminister hat die Polizei in über 20 Hochschulen geschickt.« Die Studentenvertreterin erzählt noch, dass die Studentenproteste sich auch mit den Bahnarbeitern im Streik und anderen solidarisieren.

Wann wird so etwas in Deutschland passieren? Sandro Filippi ist in dem nationalen Kollektiv »Lernfabriken meutern« organisiert. »Der Streik in Hamburg hat immerhin erreicht, dass die angekündigten Kürzungen nicht so hoch ausgefallen sind. Es stimmt aber, das Protestpotenzial unter deutschen Studierenden ist noch nicht besonders hoch. Sie lernen es aber auch nicht anders an der Schule, wo sie zwar irgendwas abstimmen, doch dann erfahren dürfen, dass es doch nichts ändert. Auf jeden Fall wäre ein neuer Bildungsstreik nötig. Allein aufgrund der hochschulpolitischen Lage: die schlechte Bezahlung der Arbeiter im Bildungssektor und die miserablen Lernbedingungen.«

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