Reisen mit der Strömung

Neben der Schifffahrt tragen Meeresströmungen maßgeblich dazu bei, invasive Arten zu verbreiten. Von Ingrid Wenzl

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich ist die fast durchsichtige, bis zu elf Zentimeter große Rippenqualle Mnemiopsis leidyi vor der Ostküste der USA zu Hause. Doch für Furore sorgte die auch Meerwalnuss genannte Qualle auf unserer Seite des Ozeans. Vor 35 Jahren tauchten erste Exemplare davon im Schwarzen Meer auf. Dort vermehrte sie sich so schnell, dass die dort ökonomisch wichtigen Sardellenbestände zusammenbrachen, denn wie diese Fische ernährt sich die Meerwalnuss hauptsächlich von kleinen Krebstieren.

2005 wurde Mnemiopsis leidyi erstmals in Nordeuropa gesichtet, erst in der Nordsee, seit 2006 auch in der Ostsee. Aufgrund ihrer großen genetischen Übereinstimmung mit ihren Verwandten vor Neuengland geht man davon aus, dass sie im Ballastwasser von Frachtschiffen nach Europa gelangt ist. Doch die Häfen sind nur das Einfallstor. Von dort breiten sich die blinden Passagiere mithilfe von Meeresströmungen binnen weniger Monate über Entfernungen von bis zu 2000 Kilometern aus. Das ist die Quintessenz einer Studie, die kürzlich im der Fachzeitschrift »Global Ecology and Biogeography« (DOI: 10.1111/geb.12742) erschienen ist.

Eine internationale Forschergruppe um Cornelia Jaspers vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel sammelte alle gesicherten Daten über das Auftreten der Meerwalnuss in Nordeuropa seit 1990. »Als wir das Vorkommen der Tiere mit den vorherrschenden Meeresströmungen Nordeuropas verglichen, stellten wir fest, dass die Strömungsmuster mit der Ausbreitung der Qualle gut übereinstimmen«, erklärt Jaspers.

Nach zwei kalten Wintern Anfang 2010 war die Meerwalnuss aus weiten Teilen Nordwesteuropas verschwunden, so auch aus der Ostsee. »Wird eine kritische Wintertemperatur erreicht, werden sie zurückgedrängt. Doch ein warmer Winter reichte ihnen, um das komplette Gebiet zurückzuerobern«, berichtet Jaspers. Wie sich herausstellte, fand sich in der Nordsee nach der Kältewelle nur noch ein Genotyp der Meereswalnuss, der sich danach schnell ausbreitete und damit die These bezüglich der Schlüsselrolle der Meeresströmungen stützt. Bei ersten DNA-Proben im Jahre 2008 hatten Meeresbiologen noch verschiedene Populationen gefunden.

Die Ergebnisse von Jaspers und ihrem Team zeigen, dass die Einleitung von Ballastwasser nicht nur das Risiko einer punktuellen Invasion fremder Arten birgt. Die Meeresströmungen können die mit dem Ballastwasser eingeschleppten Arten weit über das an den Hafen angrenzende Gebiet verbreiten. Damit unterstreicht die Studie die Notwendigkeit einer schnellen Umsetzung des im vergangenen Jahr in Kraft getretenen internationalen Ballastwasser-Übereinkommens. Dieses sieht vor, dass das Ballastwasser, das Containerschiffe bei Leerfahrten stabilisieren soll, künftig an Land abgepumpt werden muss. Für ältere und kleinere Schiffe bestehen jedoch noch Übergangsbestimmungen. »Ganz vermeiden lässt sich der Eintrag fremder Organismen mit dem Ballastwasser-Übereinkommen zwar nicht, aber es ist ein wichtiger Schritt«, glaubt Hanno Seebens vom Senckenberg Biodiversität und Klimaforschungszentrum (SBIK-F).

Nach Aussage von Seebens ist die Nordsee besonders prädestiniert für invasive Arten: »Es gibt dort sehr intensiven Schifffahrtsverkehr, und die Nordsee ist sehr stark belastet und eutrophiert durch die Anrainerstaaten. Das ist ein guter Nährboden für neue Arten, wo sie sich auch halten können«, sagt er. In einer Studie, die bereits 2016 in den »Proceedings« der US-Wissenschaftsakademie (PNAS, DOI: 10.1073/pnas.1524427113) erschien, weisen er und sein Team ferner darauf hin, dass die Nordsee ähnliche ökologische Bedingungen wie die Meeresgebiete um China und Japan biete. Das mache sie speziell für Tiere aus dieser Region attraktiv.

Bislang ist die Einwanderung von Mnemiopsis leidyi in Nord- und Ostsee glimpflich verlaufen. Allen Befürchtungen zum Trotz blieben Einbrüche in der Fischerei bis heute aus. Besonders große Vorkommen der Art finden sich vor allem an Orten mit starker Überdüngung (Eutrophierung) wie an Flussmündungen oder in eingedeichten Gebieten. »Als die Meerwalnuss ins Schwarze Meer eingeschleppt wurde, war das Ökosystem dort bereits extrem gestört«, erklärt Jaspers. »Gründe dafür waren die Überfischung, ein massiver Nährstoffeintrag und damit verbunden ein niedriger Sauerstoffgehalt.« Für die Rippenquallen bestand damit ein Überangebot an Nahrung, während ihnen Faktoren, die anderen Lebewesen Stress bereiten - wie Sauerstoffarmut und der niedrige pH-Wert - nichts anhaben konnten. Im Vergleich dazu sind die Fischbestände der Nord- und Ostsee weniger überfischt und die Ökosysteme noch relativ intakt.

Nach heutigem Wissenschaftsstand treiben die Rippenquallen schon seit rund 600 Millionen Jahren durch die Weltmeere. Ihre Fähigkeit, mit Sauerstoffmangel oder Ozeanversauerung umzugehen, erklärt, wie sie es geschafft haben, die fünf bekannten großen Massenartensterben der Erdgeschichte zu überdauern. Überhaupt sind Mnemiopsis leidyi wahre Überlebenskünstler: So können sie, wie zwei frühere Studien des GEOMAR zeigen, Bakterien, die sie einmal befallen haben, wiedererkennen und mit ihrem Immunsystem effektiv bekämpfen und sich bei ausreichendem Nahrungsangebot selbst nach schweren Verletzungen wieder vollständig regenerieren.

Einen weiteren Wettbewerbsvorteil hat Mnemiopsis leidyi gegenüber anderen Arten, weil sie sich bereits als Larve vermehren kann - anders als gewöhnliche Quallen durchlaufen Rippenquallen kein sesshaftes Stadium als Polyp. »Diese Vermehrung von Larven wurde bereits vor 100 Jahren erstmals beobachtet. Man vermutet, dass sie dadurch auch unter sehr schlechten Umweltbedingungen überleben können«, erzählt Jaspers. Wie ihr Team herausfand, vermehrt sich die amerikanische Rippenqualle in nichtheimischen Gebieten deutlich früher als vor Neuengland. Damit optimiert die Meerwalnuss ihr Populationswachstum und so ihren Invasionserfolg.

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