Wenn Experten irren

Über vermeintliche Trends im Weltfußball und eine Überraschung, mit der niemand rechnete

Man musste nicht lange warten. Schon nach den ersten Spielen dieser WM mussten sich die Experten positionieren, um Trends und neue Entwicklungen des Weltfußballs zu verkünden. Die große Anzahl von Toren nach Standardsituationen war dafür ein gefundenes Fressen. Nachdem Cristiano Ronaldo am Mittwochnachmittag für Portugal vom Elfmeterpunkt getroffen hatte, waren es bereits 22 in 18 Spielen.

Zugegeben, wenn etwas mehr als die Hälfte aller Tore nach Standards erzielt werden, fällt es auf. Aber schon, dass nicht nur Eckbälle oder Freistöße, sondern auch Elfmeter zu dieser Kategorie gezählt werden, minimiert den Wert der Erkenntnis. Und neu ist sie schon lange nicht mehr. »Die Bedeutung von Standards hat sich unglaublich vergrößert«, analysierte die Technische Kommission der FIFA bereits nach der WM vor vier Jahren in Brasilien.

Natürlich sind Standardsituationen ein wichtiges Element, gerade bei Nationalmannschaften. Oder wie Englands Trainer Gareth Southgate sagt: »Bei Freistößen oder Eckbällen kann man alles selbst entscheiden.« Er meint damit Laufwege, Stellungsspiel, wie und wohin der Ball gespielt wird. In der zum Klubfußball vergleichsweise sehr kurzen Vorbereitungszeit ist es eine verständliche Entscheidung, sich verstärkt darauf zu konzentrieren: effizientes Training.

Im Reflex, möglichst schnell etwas Schlaues und Meinungsstarkes zu formulieren, vernachlässigten viele eine Fußballweisheit: Wie Pokalspiele haben auch Auftaktspiele ihre eigenen Gesetze. Fast jede Mannschaft tut sich schwer, den Rhythmus findet man bestenfalls im Turnierverlauf. Auch das ist eine Erklärung für weniger Treffer aus dem Spiel heraus. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass taktisch, vor allem im Defensivverhalten mit Pressing und Raumverteidigung, auch schwächere Teams ein gutes Niveau erreicht haben. Das aber ist ebenfalls nichts Neues: Verteidigen war schon immer einfacher als mit dem Ball zu spielen.

Als Portugals Cristiano Ronaldo und der Franzose Antoine Griezmann im vierten beziehungsweise fünften Spiel dieser WM ihre Teams zu Siegen geführt hatten, hieß es, es würde ein Turnier der großen Stars werden. Als dann Lionel Messi beim Remis der Argentinier einen Elfmeter verschossen hatte und Neymar beim Unentschieden der Brasilianer so gar nicht glänzen konnte, hieß es, die Stars würden das Turnier auch negativ bestimmen. Voreilig, beliebig und wertlos sind solche Urteile - und respektlos gegenüber allen anderen Spielern im Mannschaftssport Fußball.

Die Einschätzung, dass Afrikas Fußballer bei dieser WM nicht mithalten könnten, widerlegte die Mannschaft Senegals am Dienstag mit dem Sieg gegen Polen. Diese Partie war der Abschluss des ersten Gruppenspieltages. Den zweiten eröffnete der Gastgeber am Dienstagabend. Nach dem zweiten Sieg im zweiten Spiel ist die russische Mannschaft die erste Überraschung dieser WM - Mexiko oder Island müssen ihre ersten guten Auftritte erst noch bestätigen.

Russlands Fußballer müssen auch erst noch zeigen, wie sie auf einen Rückstand oder größeren Druck durch stärkere Gegner reagieren. Aber: Mit acht Toren in zwei Spielen haben sie die großen Zweifel in der Heimat an ihrem Team vorerst aus den Köpfen geschossen. Die Skepsis war berechtigt. Die vielen schwachen Auftritte vor der WM hatten keine Hoffnung auf Erfolge beim Turnier geweckt.

Nun wirkt der Heimvorteil noch stärker, das ganze Land euphorisiert. Von einer Mannschaft, deren Glück das Pech einiger verletzter Stammspieler ist. So darf mit Artem Dzyuba ein klassischer Mittelstürmer mit Torinstinkt und Technik im Alter von 29 Jahren seine große Klasse zeigen. Und so kann ein bislang überragendes Mittelfeld mit Spielern wie Denis Tscheryschew, Juri Gasinski oder Alexander Golowin der Mannschaft defensive Stabilität und Sicherheit geben und offensiv Torchancen herausspielen. Herausragend dabei ist der 24-jährige Roman Sobnin in der Zentrale. Ein Name, den sicher kein Experte auf seinem Zettel hatte.

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