In England ist jetzt alles möglich

Beendeter Fluch, erlöster Trainer und viele Sticheleien: Gareth Southgate führt sein Team ins Viertelfinale

Diese Fußball-WM bringt also wirklich alle Gewissheiten ins Wanken. Deutsche, die nicht mal die zweite Runde erreichen? Okay. Aber Engländer, die ein Elfmeterschießen überstehen? Seit Dienstagabend weiß alle Welt, dass auch so etwas möglich ist im Jahr 2018, das so viele Überraschungen bietet wie schon lange kein WM-Turnier mehr.

Auf der Insel waren sie in der Nacht zu Mittwoch dementsprechend aus dem Häuschen nach diesem 4:3-Erfolg ihrer Fußballer gegen Kolumbien im Entscheidungsschießen, durch den die Mannschaft von Trainer Gareth Southgate ins Viertelfinale gegen Schweden einzog. Mehr als 23 Millionen Zuschauer schauten vor den Fernsehern ungläubig zu, wie der Penalty-Fluch bei Weltmeisterschaften beerdigt wurde: Als Jordan Hendersons Versuch von Kolumbiens David Ospina vereitelt wurde, glaubten wohl viele an erneutes Scheitern der Engländer. Es stand 2:3, und die Kolumbianer hatten den psychologischen Vorteil des ersten Versuches auf Ihrer Seite. Zu 60 Prozent gewinnen im Elfmeterschießen die Mannschaften, die anfangen.

Doch die Südamerikaner, deren Spielmacher James Rodríguez das Spiel verletzt von der Tribüne aus verfolgen musste, bekamen weiche Knie: Mateus Uribe traf nur die Latte, der Londoner Kieran Trippier glich zum 3:3 aus. Und Carlos Bacca schoss so unplatziert, dass der nur 1,85 Meter große Jordan Pickford hielt - jener 24-Jährige vom FC Everton, den man zuhause als Schwachpunkt der Mannschaft ausgemacht hatte. Eric Dier von Tottenham Hotspurs verwandelte schließlich sicher zum 4:3, bevor Pickford unter einem roten Jubelhaufen verschwand.

Das Schicksal hatte eine seiner besonders schönen Wendungen genommen, denn Englands Teammanager Southgate hatte einst als Spieler mit einem verschossenen Elfmeter ein schlimmes Aus besiegelt: die Niederlage gegen Deutschland im Halbfinale der Heim-EM 1996.

Ein Trauma für die Nation und für den Defensivmann auch. Southgate sollte es später in einem Buch verarbeiten, vor allem aber sollte er 2018 seine Lehren daraus gezogen haben. Im Spartak-Stadion berichtete er nach dem Sieg von dem ausgiebigen Spezialtraining, mit dem er das Team auf ein Ausscheidungsschießen vorbereitet hatte. Man habe die Trefferbilder der einzelnen Mannschaften ausgiebig studiert und auch die Situation des Elfmeterschießens selbst: jenen langen Gang des Schützen von der Mittellinie bis zum Elfmeterpunkt, diese qualvoll ewig wirkenden Sekunden, in denen das Tor unversehens zu schrumpfen scheint, während der Torwart immer mächtiger wirkt.

Als am Ende alles aufgegangen war, konnte der 47-jährige Trainer den Erfolg genießen: »Es ist ein besonderer Moment für dieses Team, für die ganze Nation. Er gibt den nächsten Generationen hoffentlich den Glauben, dass alles möglich ist. Diese jungen Spieler leben das vor.«

Allerdings hatten sich die jungen Helden um Kapitän Harry Kane lange Zeit schwer getan gegen die Kolumbianer, weil vor allem die Abwehr der Südamerikaner um die beinharten Yerry Mina (FC Barcelona) und Davinson Sánchez (Tottenham) die Engländer kaum zur Entfaltung kommen ließ. Die Briten brauchten, wie schon so oft in diesem Turnier, eine Standardsituation, um zu treffen. Harry Kane besorgte das 1:0 mit einem Foulelfmeter in der 57. Minute, sein sechster Treffer dieser Weltmeisterschaft, womit er den englischen WM-Rekord vom Gary Lineker egalisierte, der 1986 mit dieser Zahl Torschützenkönig geworden war.

Erst in der Schlussphase konnten die Kolumbianer überhaupt so etwas wie ein eigenes Angriffsspiel aufziehen. Die oft überfordert wirkenden »Cafeteros« von Trainer José Pekerman hatten dabei zudem reichlich Glück, als Yerry Mina in der dritten Minute der Nachspielzeit doch noch per Kopf ausglich - Minas dritter WM-Treffer. Ansonsten fielen die Kolumbianer vor allem mit Sticheleien, Kopfstößen und Meckereien auf - immerhin sechs gelbe Karten gab es für all das Gemosere über die Markierungen für den Freistoßschützen und die dazugehörige Mauer. Schiedsrichter Mark Geiger aus den USA hatte ziemliche Mühe, die Spieler im Zaum zu halten.

Auch in der Niederlage zeigten die Kolumbianer noch jene Geisteshaltung, mit der sie die 44 000 Zuschauer in Moskau zu Jubelstürmen wie auch gellenden Pfeifkonzerten gegen die Engländer ermuntert hatten: »Wir haben die ganzen 120 Minuten mit aller Kraft gekämpft«, urteilte Kapitän Radamel Falcao vom AS Monaco. »Wir gehen verärgert und enttäuscht. Aber Kolumbien wird noch stärker zurückkommen.« Der 32-jährige Torjäger, der in Russland wohl seine letzte WM spielte, war sich gleichzeitig nicht zu blöd, dem Referee die Schuld zu geben: »Der Schiedsrichter war eine Schande«, beklagte sich Falcao nach dem Match. »Es war mehr als deutlich, dass er im Zweifelsfall immer für England gepfiffen hat.«

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