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Abendliche Recherche in den Kaschemmen

Im Berlin der 1920er Jahre entdeckten die neuen Boulevardmedien das Verbrechen als auflagensteigerndes Thema, und Hellseher dingten sich der Polizei als Verbrechensaufklärer an

  • Bettina Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

Die »Kriminaltelepathie« war vor allem in den 1920er Jahren ein extrem polarisierender und ambivalenter Begriff für ein wissenschaftlich nicht akzeptiertes Phänomen. Im Fokus waren dabei Personen, die nicht offiziell im Dienste der Kriminalpolizei standen, die man jedoch aufgrund von angeblich übernatürlichen Kräften dafür befähigt hielt, ein Medium in Trance zu versetzen, das dann mit sanften Befehlen dazu angehalten wurde, eine gedankliche Verbindung zum Tatort, zu Personen etc. herzustellen, um so wichtige Hinweise zur Verbrechensaufklärung zu erhalten.

Die Zeit der starken gesellschaftlichen Verwerfungen nach dem Ersten Weltkrieg mit der daraus resultierenden Unsicherheit produzierte auch stark ambivalente Gefühlswelten, die sich auf alle Bereiche des Lebens übertrugen, was zur Folge hatte, dass »eine Welle von Mystizismus über ganz Europa hinwegflutete«, wie das »Neue Wiener Tagblatt« 1922 schrieb. Es waren heutzutage teilweise sehr seltsam anmutende Reaktionen auf die Zeitumstände. So entstand neben dem Phänomen der »Kriminaltelepathie« vor allem in Berlin auch eine Art »Verbrechertrend«, jedoch nur bei denjenigen, die nicht von den diversen Krisen der anfangs noch instabilen Weimarer Republik finanziell ruiniert waren. Im Rahmen einer auch immens wachsenden Vergnügungsindustrie suchten sie immer neuere »Kicks«, um sich zu amüsieren. Menschen ließen sich durch Berliner Verbrecherkaschemmen führen und besuchten »Verbrecherbälle«, ebenso hielt das Thema Einzug in Literatur und Presse. Leo Heller (1876 - 1941), eigentlich Lyriker und Journalist des Berliner »8-Uhr-Abendblatts«, wurde einer der führenden Kriminal-Berichterstatter der 1920er Jahre, für den persönlich die abendlichen Recherchen in einschlägigen Kaschemmen zur Sucht wurden und der sich zunehmend auch mit den Protagonisten des Milieus solidarisierte.

Selbst im Sommerurlaub sehnte sich Heller nach Berlin zurück und dabei vor allem »nach den wilden Kreuz- und Querzügen in den Jagdgründen der Diebe, Einbrecher, Zuhälter und Räuber«. Während er des Nachts in Verbrechervierteln unterwegs war, oft in Begleitung der Kriminalpolizei im Rahmen einer Razzia, führte er tagsüber privat ein eher gutbürgerliches, mondänes Leben. Seine Ehefrau Regina kleidete in ihrem exklusiven Modesalon »Regina Friedländer« (Friedländer war der Name ihres ersten Ehemannes) die gutbetuchten Berlinerinnen ein. Leo Heller, »der bestinformierte Schilderer der Berliner Unterwelt«, verfasste jedoch nicht nur Bücher über Berliner Verbrecher und Verbrechen, sondern auch Drehbücher, zum Beispiel für den Stummfilm »Falschspieler« (1920) mit Hans Albers in der Hauptrolle.

Das Phänomen »Kriminaltelepathie« ist im Kontext der rapide angestiegenen Kriminalitätsrate zu sehen, eine längerfristige Institutionalisierung gab es jedoch nie, obwohl die Berliner Kriminalpolizei zeitweise ein Versuchsdezernat unterhielt, um diejenigen Fälle unter die Lupe zu nehmen, bei denen Telepathen eine Rolle gespielt hatten. Ein privat gefördertes »Institut für Kriminaltelepathische Forschung« in einer Wiener Privatwohnung, das es dort bereits seit Anfang der 1920er Jahre gab, wurde bereits nach kurzer Zeit wieder geschlossen. Zunehmend wurde die »Kriminaltelepathie« zu einer großen Belastung für die Beamten, da sich ihre Arbeitsbelastung dadurch immens erhöhte, worüber sich beispielsweise der Berliner Kriminalkommissar Ernst Gennat beklagte. Trotz der fehlenden Institutionalisierung kam es immer wieder vor, dass Polizeibeamte Hellseher und sogenannte personale Medien zurate zogen.

Die »Kriminaltelepathie«- und Mordprozessberichterstattung hatten mittlerweile bizarre Formen angenommen. Letzte Tabus fielen ihr zum Opfer. Der Mordprozess Friedländer war dafür exemplarisch. Der 19-jährige Manasse Friedländer hatte 1928 in Berlin seinen Bruder Waldemar und ihren gemeinsamen Freund Tibor Földes erschossen, weil er sich durch seinen Bruder, der ihn seit Langem schikanierte, bedroht fühlte. Der eher introvertierte junge Mann, der davon träumte, Schriftsteller zu werden, streifte oft des Abends durch Berliner Verbrecherviertel und hatte sich bei einem seiner Ausflüge die Mordwaffe gekauft.

Das Gericht bat die Presse aufgrund des jugendlichen Alters des Täters um Rücksichtnahme, doch umsonst: Täter und Opfer wurden namentlich genannt, ihre Fotos abgedruckt und Friedländer zunächst zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Später stigmatisierte ihn ein neues Gutachten zum »Irren«, der schon zur Tatzeit psychisch krank gewesen sei, sodass man ihn in die Anstalt Herzberge in Berlin-Lichtenberg verbrachte. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Da er jüdischer Herkunft war, ist zu befürchten, dass er einer Euthanasieaktion der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen ist.

1929 schließlich war, zumindest von offizieller Seite, Schluss mit der Hellseherei bei Kriminalfällen. Das Innenministerium gab einen Runderlass an alle Polizeibehörden heraus, der unmissverständlich untersagte, »Hellseher, Telepathen u. dgl. zur Aufklärung strafbarer Handlungen heranzuziehen oder sie an Maßnahmen zu beteiligen, die eine Aufklärung mit Hilfe parapsychischer Fähigkeiten bezwecken«.

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