Menschen, die nach Bildern suchen

Der Comic-Zeichner Simon Schwartz erzählt die wahre Geschichte einer Arbeiterin, die sich für eine Zarentochter hielt

  • Waldemar Kesler
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 17. Februar 1920 wird die Fabrikarbeiterin Franziska Czenstkowski nach einem Selbstmordversuch aus dem Landwehrkanal gezogen und in die Nervenheilanstalt Dalldorf gebracht. Am 23. Oktober 1921 bringt die »Berliner Illustrirte« einen Aufmacher, in dem über den Verbleib der russischen Zarenfamilie spekuliert wird, deren Hinrichtung in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 in Jekaterinburg noch nicht öffentlich bekannt ist. Eine Pflegerin der Nervenheilanstalt Dalldorf glaubt nach einem Blick auf das Titelblatt, in Franziska Czenstkowski die Zarentochter Anastasia zu erkennen. Stoff für die Boulevardpresse: Sie stilisiert die Czenstkowski zur Großfürstin, die den Revolutionswirren entronnen war.

Der Comic »IKON« erzählt zwei miteinander verwobene Biografien, die von Franziska Czenstkowski und die des Russen Gleb Botkin, der als Sohn des Leibarztes des russischen Zaren bei der Oktoberrevolution seine Kindheitsfreundin Anastasia aus den Augen verlor. Im amerikanischen Exil gründet er die »Church of Aphrodite« und predigt eine metaphysische Liebe aus purer Energie, die sich in der weiblichen Gottheit Aphrodite manifestiere. Aus dem »LIFE«-Magazin erfährt er von Anastasias angeblichen Wiederauftauchen.

Czenstkowski lebt inzwischen in einer Baracke ihres Fürsprechers Prinz Friedrich Ernst von Sachsen-Altenburg. Sie ist schwer verhaltensauffällig und wird obdachlos, als das Gesundheitsamt die Räumung des vermüllten Barackengeländes anordnet. Daraufhin folgt sie der Einladung von Botkin, zu ihm in die USA zu kommen. Obwohl sie kein Russisch spricht, glaubt jener an die kranke Frau, die vorgibt, seine verlorene Anastasia zu sein, und Anspruch auf den russischen Thron erhebt.

Der Hamburger Comic-Autor Simon Schwartz hat sich auf exzentrische Lebensläufe spezialisiert. Nachdem er 2009 mit »drüben!« debütierte, der Geschichte der Republikflucht seiner Eltern, erhielt er für seine zweite große Arbeit »Packeis« (2012) den »Max und Moritz«-Preis für den »Besten deutschsprachigen Comic«. In dem Band erzählt Schwartz vom Seemann Matthew Henson, der als erster Mensch 1909 den Nordpol erreichte und als Mann, der den Teufel besiegte, in die Sagenwelt der Inuit einging. Doch Anerkennung blieb aus, vermutlich da Henson Afroamerikaner war. 2014 erschien mit »Vita Obscura« ein Sammelband von Schwartz’ Comic-Strip-Reihe aus »Der Freitag«. Darin hat er dreißig absonderliche Leben in einem jeweils eigenen Stil aufgearbeitet und seine handwerkliche Vielseitigkeit bewiesen.

Simon Schwartz’ Figuren mögen auf den ersten Blick wie aus einem Kindercomic wirken: mit einer überdeutlichen, eindeutigen Mimik ins Cartooneske gehend. Die stilistische Mischung aus Druckrasterpunkten, dick aufgetragenen Tuschelinien, extremen Schwarz-Weiß-Kontrasten, aquarellierten Zeichnungen und Ikonenbildern bildet aber in »IKON« eine so nuancierte Ausdruckspalette, dass sie im krassen Gegensatz zur Naivität der Figurenzeichnungen steht.

Hier ist eine große stilistische Weiterentwicklung gegenüber »Packeis« zu erkennen. Während darin glatte grau-blaue Flächen eine Atmosphäre der Kälte herstellten, verweist das Zeitungsblatt-Druckmuster auf die Bildproduktion von Massenmedien. So säumen Filmplakate den Lebensweg der falschen Anastasia: Ihre zwanghafte Wahnvorstellung, die Zarentochter zu sein, setzt beim Anblick eines Plakats von »Das Cabinet des Dr. Caligari« ein; sie stirbt in der Nähe der Werbung für Orson Welles’ letzten Film »F for Fake«. Auch der 1956 entstandene Hollywood-Streifen mit Ingrid Bergman taucht auf, der lose auf der Geschichte von Franziska Czenstkowski basiert.

»IKON« erzählt von Menschen, die in einer Welt verschwimmender Konturen nach eindeutigen Bildern suchen, an die sie sich klammern können. Indem Simon Schwarz diesen Bogen von der Ikonenmalerei zur Populärkultur schlägt, macht er aus einer kuriosen Nebenhandlung der Geschichte ein zeitlos menschliches Thema. Und das ist immer große Kunst.

Simon Schwartz: IKON. Avant-Verlag, 216 S, geb., 25 €.

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