Kreative Leere

Neues von DJ Martyn

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Tod verändert alles, er macht die Hinterbliebenen vorübergehend zu anderen Menschen, reißt furchtbare Lücken ins Leben. Der niederländische Musiker, Produzent und DJ Martijn Deijkers kam im Sommer des Jahres 2017 dem eigenen Tod empfindlich nahe. Einen Herzinfarkt überlebte der 43-Jährige nur knapp, und natürlich liegt es nahe, Martyns, so sein Künstlername, erstes weithin vernehmbares (Über-)Lebenszeichen, das melancholisch-energetische Clubmusik-Album »Voids«, vor diesem Hintergrund zu deuten - zumal voids vielsagend Leere oder Lücke bedeutet. Die Nähe zum Popboulevard - endlich mal ein Musiker mit echten Problemen! - gibt’s als Mehr- und Nährwert gratis dazu. Andernfalls müsste man von Martyns Nahtoderfahrung schweigen.

Da Pop aber nun mal nicht nur Musik im engeren Sinne ist, wäre das freilich auch nicht richtig, vielleicht sogar naiv, der Kontext spielt immer eine Rolle. Und Martyn ist nicht Kanye West, der mit sämtlichen seiner zahlreichen Krankheitssymptome und narzisstischen Deformationen hausieren geht.

Aus schwerer Krankheit erwacht man nicht wie neugeboren, sondern mit einer gewissen Leere in Geist und Knochen. Guter Zeitpunkt für einen Neuanfang. Laut Platteninfo des Berghain-Plattenlabels Ostgut Ton hörte Martyn nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus als Erstes das Album »M’Boom« von Max Roach (und anderen) aus dem Jahr 1979. Ein grandioses Stück Percussion-Ensemble-Kunst, über das Martyn sagt: »Da war so viel Raum in der Musik, etwas, das ich vorher nie bemerkt hatte - beinahe 3-D. Aber das Bemerkenswerteste war die Leere zwischen den Musikern.«

Musiker gibt es auf »Voids« nur einen, Features oder Kollaborationen, die der Berghain-Resident eigentlich schätzt, gibt es keine. Noch stärker als in älteren Arbeiten des Künstlers wirkt in diesem herrlich rohen, jedoch niemals kalten Album das Prinzip der Konzentrationen aufs Wesentliche. Keyboardmelodien nachdenklicher detroitiger Schwere schweben über gefährlich knurrenden Basslinien, wie man sie aus düsteren Drum & Bass-Tracks der mittleren 90er kennt. Voll und leer zugleich wirkt das Post-Dubstep- und UK-Garage-Grundgerüst der Platte, der Mut zur strukturellen Lücke dieser Genres ist bekannt, Martyn verleiht seinen Beats und Grooves sowie der häufig polyrhythmischen Percussion eine sympathische Erdung, indem er sie klingen lässt, als wären sie aus schwerem harten Holz oder aus Metall.

Eines ist »Voids« mit Sicherheit: ganz bei sich. Ein Außen scheinen die neun Tracks nicht zu brauchen. Einen namentlichen menschlichen Adressaten aber hat das wunderschöne Stück »Manchester«, wenngleich der Anlass ein trauriger ist. Es ist Martyns langjährigem Freund, dem Produzenten Marcus Intalex alias Trevino, gewidmet, der 2017 unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.

Martyn: »Voids« (Ostgut Ton)

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