Ein Schafskopf als Professor

Von Schulnöten, guten Beziehungen und der Macht des Wissens

  • Lesedauer: 3 Min.

Der Sohn eines Farbenhändlers experimentierte schon früh mit den Materialien, die er in der Werkstatt seines Vaters vorfand. Außerdem las er gern wissenschaftliche Bücher, die ihm tiefere Einblicke in das Funktionieren der Natur gewährten. Auf Wunsch seiner Eltern besuchte er das Gymnasium, das er jedoch vorzeitig wieder verließ. Ein Lehrer gab ihm dabei die Worte mit auf den Weg: »Du bist ein Schafskopf! Bei dir reicht es nicht einmal zum Apothekenlehrling.« Tatsächlich musste er eine Apothekerlehre nach etwa einem Jahr abbrechen, da er nach eigener Erzählung bei privaten Versuchen einen Dachstuhlbrand ausgelöst hatte.

Durch Vermittlung seines Vaters durfte er schließlich ein Studium der Chemie aufnehmen. Nach drei Semestern begann er mit der Arbeit an seiner Dissertation und wurde mit 19 zum Doktor der Philosophie promoviert. Da er als Student an Demonstrationen gegen die Obrigkeit teilgenommen hatte, geriet er auf eine Fahndungsliste der Polizei und musste die Universität verlassen. Er ging nach Frankreich, wo er dank eines Stipendiums seine Studien an der berühmten Sorbonne fortsetzen konnte. Außerdem lernte er in Paris Alexander von Humboldt kennen, auf dessen Empfehlung hin er vom Großherzog von Hessen zum außerordentlichen Professor an der Universität Gießen ernannt wurde. Bereits im darauffolgenden Jahr erhielt er eine Berufung zum ordentlichen Professor für Chemie. Damals genoss dieses Fach in der akademischen Welt ein eher geringes Ansehen. Entsprechend mäßig war sein Gehalt, und auch die Arbeitsbedingungen im Labor ließen zu wünschen übrig. Oft wurde ihm das Geld für die Anschaffung neuer Geräte verweigert, so dass er diese aus eigener Tasche bezahlen musste.

Dennoch blieb er der Universität Gießen fast drei Jahrzehnte treu. Während dieser Zeit heiratete er die Tochter eines Hofkammerrats, mit der er fünf Kinder hatte. Zu deren Nachkommen gehören die Schauspieler Mathieu und Mareike Carrière ebenso wie der Weitspringer Luz Long, der sich 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin einen fairen und legendären Wettkampf mit Jesse Owens lieferte.

Als Wissenschaftler gelangen dem von uns Gesuchten nicht nur zahlreiche bahnbrechende Entdeckungen. Er entwickelte auch ein Konzept für ein modernes Chemiestudium und gab eine eigene Fachzeitschrift heraus, in der zu publizieren, für Wissenschaftler eine hohe Ehre war. Studenten aus der ganzen Welt strömten in seine Vorlesungen. Insgesamt bildete er über 450 Chemiker und 300 Pharmazeuten aus. 84 davon kamen aus England, 18 aus den USA. Je mehr sein Name zu einem Begriff in der Wissenschaft wurde, desto mehr Angebote von anderen Universitäten erhielt er. Doch er lehnte ab, zumal ihm das zuständige hessische Ministerium jedes Mal erhebliche finanzielle und berufliche Vergünstigungen einräumte. Im Alter von 43 Jahren wurde er auf eigenen Wunsch sogar zum Freiherrn geadelt.

Als die Tochter eines Freundes in seinem Haus an Cholera erkrankte und keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, flößte er ihr einen selbst gebrauten Fleischtrank ein. Er hatte Erfolg, und das Mädchen erholte sich. Daraufhin entwickelte er den Trank weiter zu einem löslichen Fleischextrakt, der später in großen Mengen in Südamerika hergestellt wurde und als Vorläufer heutiger Brühwürfel gilt.

Zu guter Letzt konnte er den Verlockungen eines lukrativen Neuanfangs nicht widerstehen. Er kehrte Gießen den Rücken und ging als Berater des bayerischen Königs nach München, wo er zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften auf Lebenszeit ernannt wurde. Überdies betätigte er sich wirtschaftlich bei der Vermarktung eines von ihm erfundenen Düngers. Kurz nachdem die bayerische Metropole ihn zum Ehrenbürger ernannt hatte, starb er mit 69 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Unter großer Anteilnahme der Münchner Bevölkerung wurde er zu Grabe getragen.

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