Sensible Wege, endlos

Reiner Kunze: Zum 85. ein neuer Gedichtband - »die stunde mit dir selbst«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Diese Gedichte besitzen eine Zartheit, die unverwundbar bleibt. Sind Schmelze bis auf den Kern. Der leuchtet, ist kristallin. Was ist das: dichten? »Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt,/ als daß es fehlt«. Literatur als jenes gefühlte Sehen, das die Welt aufscheinen lässt, indem ein Mensch nicht nach dieser Welt greift, sondern so unsicher wie vertrauend - nach ihr tastet. Dichtung, überlegen jedem Gesinnungsreiz und jedem Durchblicksgräuel, das alle Dinge einordnet, bevor sie überhaupt berührt wurden.

Mehr und mehr hat sich die hochkonzentrierte, dichte Poesie von Reiner Kunze ins Geheimnis des Unausgesprochenen, Umdunkelten gewagt. Ins klar gefasste Undeutliche. Zurück ins Nichtverstehen! Nach zehnjähriger Pause legt der Autor, der heute 85 wird, nun einen neuen Gedichtband vor: »die Stunde mit dir selbst«. Wieder das Kunze-Erlebnis: dies Fromme, und im landläufigen Zerbersten der Verhältnisse doch immer ein trotzig leises Ja zum Dasein: »am grund der verzweiflung ein wort,/ das lächelt«. Das Leben muss der Mensch auf eigene Rechnung führen, aber er kann es durchaus - so der Titel eines früheren Gedichtbandes von Kunze - »Auf eigene Hoffnung« tun.

»sensible wege« (1969 im Westen erschienen, gewidmet dem tschechischen und slowakischen Volk), »zimmerlautstärke«, »eines jeden einziges leben«, »ein tag auf dieser erde«, »lindennacht« - weitere Buchtitel eines schmalen, aber europäisch großen Werkes. Ein Werk des Maßes, der selbstbewussten Zurückhaltung, des stolzen Bedenkens schriftstellerischer Bestimmung jenseits von Ideologie und Literaturbetrieb. Aufs Innenlicht mehr hoffen als auf sämtliche Scheinwerfer draußen. Die Stunde mit dir selbst: Wie viel Ehrlichkeit wagst du - dir gegenüber? Wie viel Wahrheit mutest du dir zu?

Der Bergarbeitersohn aus Oelsnitz, 1933 geboren, verließ 1977 mit seiner Familie die DDR, aufgewühlt, aufgerieben, aufatmend; er lebt seither im bayerischen Passau. Antifaschistisch befeuertes Aufbaupathos hatte früh zur SED-Mitgliedschaft geführt. Aber nach kurzem Dogmendienst an Leipzigs journalistischer Fakultät kamen bei Kunze das Erschrecken und das Widerrufen, kamen der Rückzug und der Protest.

Prag und Biermann waren die Endpunkte einer unaufhaltsamen Entfremdung. Besonders diesen Schriftsteller trafen alle schikanöse Energie und alle infame Schöpferkraft, für die Schriftstellerverband und Stasi ihre klassenkämpferische Liaison knüpften. Mielkes Aktenprosa über Kunzes Universitätszeit: »Während seiner Zeit als Assistent zeigte sich, daß er öfters politische falsche Anschauungen vertrat, die letzten Endes revisionistischen Charakter trugen.«

Bei Betrachtung eines »Porträtfotos von sich selbst von vor sechzig Jahren« resümiert Kunze schambewusst auch jene einstige sozialistische Gesinnungsfron, seinen vorübergehenden Idealismus, der in Bewusstseinsdressur überzugehen drohte.

Sein sehr persönliches »Nie wieder!« damals: »Nicht noch einmal/ so verführbar// Nicht noch einmal/ so gefährdet// Nicht noch einmal/ eine mögliche gefahr«. Das sind auch Zeilen gegen Leute, die niemals erschüttert werden von dem, was sie anfällig macht; Leute, die es immer wieder schaffen, sich völlig schmerzfrei in ihrem Weltbild, also auch in den dialektisch gewundenen Begründungen ihres Versagens aufzuhalten.

Vor Jahren veröffentliche Kunze unter dem Titel »Deckname Lyrik« einen Teil der auf einer Müllkippe bei Pößneck gefundenen 3500 Seiten Stasi-Denunziation. Atemlos machende Zeugnisse einer eiskalt organisierten Seelenverwüstung. »Misstrauen säen … Angst schüren … ins Verbindungssystem des K. eindringen … Gerüchte über die Ehefrau streuen … psychische Labilität des K. ausnutzen ... Wohnung aufklären … aufweichen … zersetzen.« Dichter Wulf Kirsten kommentierte: »Wegen seiner Kompromisslosigkeit wurde Kunze als abschreckendes Beispiel eines Staatserschütterers vorgeführt. Öffentlich und heimlich bis unheimlich.« Einer der vermeintlichen Greizer Freunde, Manfred Böhme, erwies sich als einer der infamsten Spitzel, nannte sich später Ibrahim Böhme und machte in der Wendezeit SDP- und SPD-Karriere.

1973 hatte Reclam zwar noch die Gedichtsammlung »Brief mit blauem Siegel« veröffentlicht, aber das deutsch-deutsche Exil war nicht abzuwenden. Dem voraus ging die Entfernung aus dem DDR-Schriftstellerverband - wegen der Westveröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre«. Es erzählt in Gedichten und Miniaturen jene DDR, die es offiziell nicht geben durfte: die Militarisierung der Gemüter, den ideologischen Drill, die Zweizüngigkeit, den einschüchternden Unterstrom so vieler Lebensprozesse. Eine Kampfansage. Aus unseren propagandistischen Etagen ergossen sich daraufhin Gift und Galle. Jeden Traumatisierten verbuchte das System als Sieg.

Auch die nun veröffentlichten späten Gedichte offenbaren: Reiner Kunze ist aus gutem und aus bitterem Grund ein wählerischer, vorsichtiger Einzelgänger geblieben. Das Laute liegt für ihn stets in der Nähe des Gemeinen; er weiß, warum die Menschen die Stille meiden: weil wir sonst - wie es in einem früheren Vers von ihm heißt - die Schuld knien hörten in uns. Der neue Band führt uns auf Friedhöfe, er lauscht dem Wispern des unabweisbaren Todes, der Autor blickt genauer, beteiligter als je zuvor auf alles, was uns ins Verwittern treibt. Der Dichter träumt sein Leben altersbewusst, gleicht einem gestürzten Baum, »himmellos«.

Gute Gedichte sind eine Hochform von - Gelingen. Genau so, wie uns, gewissermaßen aus heiterem Himmel, Gott begegnen kann, so kann einem Leser dieses Gelingen begegnen. Durch das wir zum Schöpfungswunder Mensch gelangen, ein Wunder, ja, trotz allem: »ohne uns/gibt es die erde und das all,/ nicht aber das gedicht«. Vor Jahren hat Kunze auf jenes unabdingbare Verhalten verwiesen, den Strom des Lebens zu bewahren: ein Strom, in dem gegenläufig ein konservatives und ein progressives Konstruktionsprinzip wirken - aber in dieser Auseinandersetzung zwischen den Gegensätzen dürfe es keinen Sieger geben. Kunze, der seine Lyrik gern mit Zitaten einleitet, führt Karl Popper an: »Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir die Träume der Weltbeglückung aufgeben.« Nicht aufzugeben ist auch, bitte, die Liebe zum Deutschen: »Die Muttersprache ist jener Daseinsbereich eines Volkes, in dem es sich zurechtfindet ohne Stern.« Sagt Kunze in einer Rede vor christdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, sie ist dem Band angefügt und bekräftigt, dass ein Reden an politischer Kanzel Sprachverneigung sein kann.

Getreidefelder, Nachtgedanken, Mittsommer, die Heimat Passau, Schneefall, Handywahn, die beschwipste Öde der Tageszeitungen - alle Wahrnehmung mündet in ein Zaudern, das um die Revision handelsüblicher Verhaltensweisen ersucht. Das schmerzvolle Staunen geht barfuß, und an Zielen liebt es die Umwege. Und was ist am Alter entdeckenswert? »blütenblatt im haar/ kirschbaumweiß auf greisenweiß/ frühling, unsichtbar«.

Auch diese jüngsten Gedichte Kunzes kreisen um den Preis, sich nicht brechen zu lassen. Es gibt eine Standhaftigkeit, die besteht in einer Art glückhafter Kapitulation: Wir unterwerfen uns lesend einem Ton, der uns bis eben gefehlt hat. Und der lebensrettend in uns anschlagen kann. Und der uns stärker macht, als die Wirklichkeit zulassen möchte. Kunze ist ein schmächtiger, zerbrechlich anmutender Dichter, aber: Die Stirn, die er bietet, lässt doch auf Grundhärte schließen: Der Panzer ist nicht Eisen, er heißt Gedächtnis. Poesie als Wort-Schatz eines grandios Machtlosen, der nicht bereit ist, seine Erfahrungen zu entwürdigen. Geh hinaus. Geh ins Offne. Aber sieh das Spalier: »stumm stehn am ausgang die verluste«.

Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main. 70 S., geb., 18 €.

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