»Falscher Ort und falscher Stil«

Forscher untersuchten das Verhalten von Polizei und Protestierern beim G20-Gipfel in Hamburg

  • Folke Havekost
  • Lesedauer: 4 Min.

Sozialforschung ist keine Schuldzuweisung. Und so sah sich getäuscht, wer vom Hamburger Institut für Sozialforschung nach knapp über einem Jahr politische oder gar moralische Urteile zum G20-Gipfel in der Hansestadt erwartet hatte. »Wir sind nicht die vielfach geforderte Expertenkommission«, stellte Projektleiter Stefan Malthaner ebenso klar: »Das hätte einiges mehr an Ressourcen gefordert.«

23 Wissenschaftler waren beteiligt an dem Bericht »Eskalation. Dynamiken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg 2017«, den das Institut am Mittwoch vorlegte, um auf 90 Seiten dem »Bedürfnis nach einer unabhängigen Aufarbeitung« der Geschehnisse nachzukommen. Wobei durchaus unklar scheint, wie groß dieses Bedürfnis tatsächlich ist. Denn quasi zeitgleich zum Geschehen haben sich ja zwei unterschiedliche Deutungsmuster etabliert, die bis heute hohe Geltungskraft besitzen: Wahlweise der G20-Protest als historisch ungesehene Bedrohung einer Großstadt durch militante Linksextreme oder die Verhinderung des Protests als Einschränkung von elementaren Bürgerrechten durch Senat und Polizei. Zwischentöne haben es da nicht nur in den Sozialen Medien schwer.

Peter Ullrich vom Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin sprach von »Eskalationsprozessen mit einer Eigendynamik, die von den Beteiligten nur noch bedingt steuerbar sind«. Einerseits wurde schon Wochen vorher von 10.000 erwarteten Gewalttätern gesprochen, andererseits verglich der damalige Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) das sicherheitspolitische Großereignis mit dem alljährlichen Hafengeburtstag. Diese »Diktion der Steuerbarkeit« habe die Ordnungskräfte früh auf eine harte Linie orientiert. »Die Polizei hat sich in ihren düsteren Prognosen so sehr verfangen, dass schon ein wenig Konzilianz zum Gesichtsverlust geführt hätte«, sagte Ullrich.

Bereits zu Wochenbeginn habe das polizeiliche Einschreiten gegen gerichtlich genehmigte Protestcamps die Gräben vertieft: »Aus dem Konflikt zwischen Protestierenden und G20 wurde ein Konflikt zwischen Protestieren und der Polizei.« Als »entscheidende Zäsur« wird die »Welcome to hell«-Demonstration am Donnerstag angesehen, deren Verlauf und Auflösung die Explosion der Gewalt am Freitag im Schanzenviertel beförderte. Für die Forscher nach Interviews, Umfragen, Videosichtung und Medienanalyse das Ergebnis einer »selbsterfüllenden Prophezeiung«. Minutiös protokollieren sie die Handlungen von Polizeikräften und Demoteilnehmern: »Beide Seiten sind hochsensibel für das Handeln der jeweils andere Partei. Nahezu jede Aktivität der Gegenüber deuten sie als Bestätigung ihrer Prophezeiung.«

»Es gab kein lineares Ansteigen der Gewalt, sondern eine Eskalationsdynamik«, erklärte Projektleiter Malthaner das Hochschaukeln der Gemengelage, in der sich auch immer wieder Beispiele gewaltlosen Protests und deeskalativen Polizeikräften fanden. Nils Schuhmacher von der Universität Hamburg formulierte derweil ein prägnantes Resümee zum Hamburger G20-Sommer: »Falscher Ort und falscher Stil.«

Schuhmacher beschäftigte sich gemeinsam mit Robert Matthies im Begleitaufsatz »Hamburger Wetter« auch mit den spezifischen lokalen Bedingungen des Protests, in dem es immer auch darum gehe, »wie Stadt und öffentlicher Raum aussehen (sollen)«. Das Autorenduo sieht das politische Vorgehen in einer Tradition mit der Behandlung von Demonstrationen gegen die Räumung des Bauwagenplatzes »Bambule« 2002 und für den Erhalt der »Roten Flora« 2013, nach deren Eskalation kurzfristig umfangreiche »Gefahrengebiete« ausgerufen wurden. »Die politische Strategie einer Verpolizeilichung des Umgangs mit Protest beinhaltete den weitgehenden Verzicht auf deeskalierende Handlungsansätze und stattete die Polizei mit einem weitreichenden Legitimationsvorschuss aus«, stellen Schuhmacher und Matthies fest: »In diesem Zuge wurde die Polizei faktisch zum zentralen politischen Akteur des Geschehens.«

Dass vom politisch zuständigen Innensenator Andy Grote während des G20-Gipfels kaum etwas zu vernehmen war, ist da mehr als nur eine Fußnote. Mit Blick auf den wirksamen Widerstand gegen die Gefahrengebiete, die 2014 zunächst stark verkleinert und im Jahr darauf als verfassungswidrig erklärt wurden, konstatieren die Autoren gleichfalls, dass in Hamburg »polizeiliche Strategien der Härte nicht zur Einschüchterung des Protests, sondern zu dessen Ausweitung führen« - besonders an Orten wie St. Pauli oder dem Schanzenviertel, in dem auch der G20-Gipfel stattfand.

Dass die Hamburger Polizei im Vorfeld des Gipfels kaum mit den Organisatoren von Demonstrationen sprach, bezeichnete Ullrich wiederum als »äußerst ungewöhnlich«. Für die Zukunft empfiehlt die Studie der Polizeiführung, stärker auf Kooperation und Differenzierung zu setzen, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner »Brokdorf-Entscheidung« vorgegeben hat. Ob dieser Rat allein künftig zu stärkeren Abweichungen von der »Hamburger Linie« führt, ist angesichts der jüngeren Geschichte des Verhältnisses von Politik und Polizei in der Hansestadt durchaus zweifelhaft.

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