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Der Schwingerkönig

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Realität ist etwas für Hartgesottene; leichter ist es, in seiner eigenen Welt zu bleiben; das erspart es einem, sich mit anderen Sichtweisen auseinanderzusetzen und Widersprüche aushalten zu müssen. Wer zum Beispiel Berlin verlässt - sagen wir mal, um in den Urlaub zu fahren - wird schnell feststellen, dass es so ganz weit außerhalb eine ganze Menge Menschen gibt, die in ihrer eigenen Realität leben, die mit der Wirklichkeit (der Berlins!) so gar nichts gemein hat. In der Schweiz zum Beispiel kennen Sie eine Tätigkeit, die nennt sich »Schwingen«. An einem heißen Tag im August vermeldeten die Schweizer Radiosender als Spitzenmeldung ihrer halbstündlichen Nachrichtensendungen, dass Matthias, der »Schwingerkönig aus der Schweiz«, seine Hosen an den Nagel gehängt habe. Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass es um das Schwingen und nicht um die Tätigkeit geht, die im Englischen mit »Swing« bezeichnet wird!

Nun, Matthias Sempach, hat das »Schwingen« - die Schweizer Variante des Sumo-Ringens, wirklich aufgegeben. Der mehrfache Champion erklärte am 10. August seinen Rücktritt von diesem Sport. Die halbe Schweiz war in tiefer Trauer - und wir Berliner Touristen, die auf der Rückreise aus den italienischen Alpen waren, den Sport bis dato aber nicht kannten, entwickelten alle halbe Stunde vor dem Verkehrsbericht (!) die wildesten und schmutzigsten Phantasien, bei welcher Stellung der »Schwingerkönig Matthias« seine Knie ruiniert haben könnte und um welchen Teil seines Körpers wohl der geflochtene Siegeskranz gehängt wurde, von dem in den Nachrichten immer die Rede war.

Vielleicht hat Matthias aber auch nur zu viel Barium und Aluminium abbekommen, und das hat ihn krank gemacht. Ja, Sie lesen richtig: Wir werden tagtäglich von den beiden Elementen berieselt. Das meinte jedenfalls eine ältere Dame, die uns einige Tage vor dem Rücktritt von Schwingerkönig Matthias in unserem Rustica hoch über dem Lago Maggiore besuchte. Unvermittelt stand sie auf der Terrasse und freundlich, wie wir Berliner nun mal sind, baten wir sie, sich zu uns zu setzen. Sie besitze ein Ferienhaus ganz in der Nähe, erzählte sie. Das hatten wir zwar noch nicht gesehen, dafür aber ihr Auto mit Freiburger Kennzeichen, das am Straßenrand parkte. In der Gegend war es sehr einsam; es leben nur wenige Menschen in dem Tal und die wenigen Häuser liegen versteckt im Wald. Wann sie denn eingetroffen sei, wollten wir von ihr wissen. Daran könne sie sich leider nicht erinnern, meinte die Dame, »das liegt an dem vielen Barium und Aluminium, das sie auf uns abwerfen«, sagte sie und blickte dabei bedeutungsvoll gen Himmel.

Für meinen Sohn war das ein sehr eindrückliches Erlebnis. Bislang kannte er derartige Realisten nur aus dem Internet, jetzt saß leibhaftig eine Vertreterin dieser Spezies vor ihm.

Die Unterhaltung verlief fortan etwas einsilbig. Doch die Dame war hartnäckig. Berichtete noch von Logen, die die Welt regieren und ähnlichen uns unbekannten Realitäten. Mein Sohn blickte mich hilflos an. Ich stand auf, entschuldigte mich, dass ich jetzt das Mittagessen vorbereiten müsse. Was es denn zu Essen gebe, fragte die geistig fidele Freiburgerin. Ich öffnete den Kühlschrank und holte die morgens frisch aus dem Supermarkt erstandenen Hähnchenschenkel (Massentierhaltung!) heraus und hielt sie ihr unter die Nase. »Damit können sie mich jagen«, sagte sie. Genau das, liebe Frau, ist ja auch meine Absicht - das sagte ich nicht, das dachte ich nur; ich lasse ja nicht jeden an meiner Realität Teil haben!

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