Schutzzone für Idlib

Russland und die Türkei einig über entmilitarisiertes Gebiet in der umkämpften Provinz / Zustimmung aller relevanten Seiten

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Sturmangriff zur Rückeroberung der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib durch syrische Regierungstruppen und ihre Verbündeten findet vorerst nicht statt. Dies ist das Ergebnis eines russisch-türkischen Präsidententreffens am späten Montagnachmittag in Sotschi. Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin einigten sich nach vierstündigen Verhandlungen in der russischen Schwarzmeerstadt darauf, bis Mitte Oktober eine entmilitarisierte Zone zwischen den regierungsfeindlichen islamisch-fundamentalistischen Milizen und der regulären syrischen Armee zu installieren.

Ein direktes Aufeinandertreffen von Kampfverbänden beider Seiten am Boden ist damit vorerst ausgeschlossen, da die Zone 15 bis 20 Kilometer breit sein und von sowohl russischen als auch türkischen bewaffneten Patrouillen im Einvernehmen kontrolliert werden soll. Da Russland die stärkste Schutzmacht Syriens darstellt und die in den meisten Medien als »Rebellen« verharmlosten Gotteskrieger von Erdogans Gnaden abhängig sind, werden die Chancen, dass sich beide Konfliktparteien dem Diktum der Präsidenten fügen, als gut eingeschätzt.

Syriens Präsident Baschar al-Assad kann seine Offensive ohne oder gar gegen Russlands Vorstellungen nicht ausführen und hat daher den Spruch von Sotschi am Dienstag begrüßt. Er habe Lösungen, die zu einem Ende von Blutvergießen und zur Sicherheit beitragen, immer gut geheißen, teilte die syrische Nachrichtenagentur Sana am Dienstag mit. Die Einigung von Sotschi sei in enger Abstimmung mit dem Verbündeten Russland zustande gekommen. Der Kampf gegen Terroristen, als solche werden von Damaskus alle bewaffneten in- wie ausländischen Regierungsgegner eingestuft, werde allerdings weitergehen, bis das gesamte Land von diesen befreit sei.

Die Provinz Idlib war vor sieben Jahren eine der ersten, die von der Damaszener Administration aufgegeben werden mussten. Über die offene Grenze zur Türkei strömten seitdem nahezu ungehindert unzählige irreguläre bewaffnete Dschihadisten einzeln oder als Gruppe, desgleichen Nachschub an Geld, Material, Waffen und allem anderen, was ein Krieg so braucht. Nun aber, da die islamischen Extremisten aus fast allen syrischen Regionen von der Regierungsarmee verjagt wurden und sich seitdem, so sie nicht aufgegeben haben, in Idlib aufhalten, ist die gleichnamige Provinz zur »Rebellen«-Hochburg geworden.

Darin hauptsächlich liegt die Unkalkulierbarkeit der nächsten Ereignisse. Stärkste Einzelmiliz in Idlib scheint »Hayat Tahrir al-Scham« zu sein, das »Komitee zur Befreiung der Levante«, welches neben großen Teilen der Stadt Idlib mehr als die Hälfte der Provinz kontrolliert. Wiewohl die militärische Situation des Komitees wie die der anderen Milizen auf Dauer aussichtslos ist, haben sie doch bislang keinerlei Bereitschaft gezeigt, zu einer friedlichen Lösung beizutragen. So war es durchaus etwas unerwartet, dass einige Milizenführer der Vereinbarung am Dienstag zustimmten. Russland habe angesichts des zu erwartenden starken Widerstands der Regierungsgegner nachgegeben, zitierte dpa den Sprecher des Rebellenbündnisses Nationale Befreiungsfront, Nadschi Mustafa.

Die Zustimmung aller bedeutsamen Dschihadistenführer von Idlib wird freilich von Russland und der Türkei als alternativlos betrachtet, denn bei der Einrichtung der Schutzzone soll es ja nicht bleiben. Hunderttausende Zivilisten sollen dort von Kampfhandlungen verschont bleiben, falls es doch keine friedliche Auflösung des Idlib-Knotens gibt. Eine Voraussetzung für relativen Frieden in der Zone ist der Abzug aller schweren Waffen von dort. Die Rede ist von Panzern, welche vor Jahren von der syrischen Armee erbeutet wurden. AFP spricht auch von Raketenwerfern, die allerdings auch über die Türkei gekommen sein könnten. In jedem Fall soll der Abzug bis 10. Oktober geschehen; eine ausreichende Zeit, so der gute Wille vorhanden ist.

Allerdings sollen auch die dschihadistischen Kämpfer die Zone verlassen, und bisher ist nicht bekannt, dass diese die Absicht dazu haben. Wo sollen sie auch? Erdogan wird sie nicht haben wollen. Er hat im August vergeblich versucht, sie zu einer ehrenvollen Kapitulation zu nötigen, um sich bei heftigen Kriegshandlungen eine weitere große Flüchtlingswelle aus Idlib zu ersparen. Die Dschihadisten haben darin Verrat gesehen, noch dazu da Erdogan sie im Gegenzug nun als Terroristen bezeichnete.

Am Dienstag sah die türkische Seite das aber sehr zuversichtlich. »Terroristische Gruppen« würden aus der vereinbarten Zone gebracht, sagte der Außenminister Mevlüt Cavusoglu nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. »Die Region wird von Radikalen gesäubert. Das Volk und die gemäßigte Opposition bleiben, wo sie sind.«

So sehr ausgemacht ist zwischen Ankara und Moskau, dass die Schutzzone nur der Anfang der Entflechtung und kein Dauerzustand sein kann, so offen ist andererseits, wie es konkret weitergehen soll, zumal unmittelbar äußeres Störfeuer von verschiedenen Seiten einsetzte. Erneut hat Israel, ohne dies einzuräumen, Syrien angegriffen; wohl einfach um zu zeigen, dass es dies jederzeit ungestraft kann. Noch in der Nacht zu Dienstag wurde unprovoziert eine militärische Stellung in der syrischen Küstenstadt Latakia bombardiert.

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