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Geheimgänge unter dem Kreml

Alexander Rahr balanciert geschickt entlang der großen Linien der Weltpolitik und der Geschichte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie viele Zeitungsartikel und Bücher inzwischen mit dem Namen Putin locken! Und hier soll er auch noch »decodiert« werden. Wobei ich dieser Veröffentlichung den marktschreierischen Titel nicht übel nehme. Möge sie es in möglichst viele Buchhandlungen und Feuilletons schaffen. Möge sie vielen Leuten in die Hände geraten. Neugier wird Leser zur Lektüre führen, Spannung wird sie dabeibleiben lassen, mit Nachdenklichkeit werden sie belohnt.

Alexander Rahr, 1958 in Taipeh geboren, ist einer der führenden deutschen Russland-Experten. Seit Jahrzehnten schon. Neben seinem Geschichtsstudium in München arbeitete er für das Forschungsprojekt »Sowjetelite« am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Von 1982 bis 1994 war er als Analytiker für Radio Liberty und die Denkfabrik Rand Corporation tätig. Wem jetzt die altbekannten Warnleuchten aufblitzen, dem sei gesagt, dass er von 2004 bis 2015 im Lenkungsausschuss des »Petersburger Dialogs« saß, der von Gerhard Schröder und Wladimir Putin ins Leben gerufen wurde, bis 2012 in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik arbeitete, dann Projektleiter des Deutsch-Russischen Forums wurde.

Als Berater für deutsche und russische Gremien und Unternehmen, die hier gar nicht alle aufzuzählen sind, dürfte der Mann eigentlich ausgelastet sein. Da verwundert es, dass er, der bereits fünf Sachbücher zum Russland-Thema veröffentlichte, nun Lust auf einen »Politthriller« bekam. Um in fiktiver Form auf Geheimnisse zu deuten, die sich anders nicht enthüllen lassen würden? Mit solcher Lesererwartung wirbt der Verlag. Sicher zu Recht. Aber für den Autoren liegt der Grund für sein Schreiben im Bewusstsein einer Berufung, wie sie manche Menschen sehr deutlich spüren und danach handeln müssen, ein innerer Auftrag, etwas voranzubringen, etwas zum Guten zu bewegen. Alexander Rahr hat gerade in den letzten Jahren mehrfach erlebt, wie er gegen Mauern stieß. Dass der Begriff »Russlandversteher« in manchen deutschen Medien zum Schimpfwort mutieren konnte, während gleichzeitig Aufgeschlossenheit gegenüber allem Fremden propagiert wird, zeigt, wie die alte Systemauseinandersetzung auch nach 1990 weiterwirkt. Weil Denken in Kategorien der Konfrontation vielen schon zur Gewohnheit geworden ist und weil es tatsächlich ein Kräftemessen zwischen den Weltmächten gibt, wobei Deutschland - auch aus alter Gewohnheit - US-amerikanischen Interessen verbunden ist. Dabei wissen alle, dass solcher Zwist niemandem von Nutzen sein kann, dass sich die diversen »Versteher« lieber zusammenfinden sollten, weil sie genügend gemeinsame Probleme haben.

Das Buch beginnt 1961, als Wassili Orekhoff, »Flüchtling vor dem sowjetischen Kommunismus« und mit dem französischen Geheimdienst liiert, im Fort Béar, dem »Horchposten im Mittelmeer«, mit Jean Cocteau zusammentrifft. Der zeigt ihm einen Text in kyrillischer Schrift. Der russische Schriftsteller Maximilian Woloschin, bekanntlich okkulten Themen zugewandt, hat ihn aus dem Französischen übersetzt. Sagen wir’s gleich: Es handelt sich um eine der Prophezeiungen, mit denen der französische Astrologe Michel de Nostredame (1503 - 1566) die Öffentlichkeit bis heute beschäftigt. Das Internet ist voll von Auslegungsversuchen und Voraussagen, die nächsten Jahre betreffend. Alexander Rahr nutzt sie als Spannungselement und fügt historische Hintergründe wie auch eine gewagte wissenschaftliche Erklärung hinzu.

Denkbar, dass erwartbare Medienkritik an der politischen Intention des Buches sich an dieser esoterischen Schiene festmacht. Nach dem Motto: Was soll der ganze Quatsch, diese angeblich geheimen Manuskripte, da man das »Buch der Prophezeiungen« doch in zahlreichen Ausgaben für sehr wenig Geld bei Amazon kaufen kann! Was soll die orangene Kapsel mit der russischen Trikolore und der Aufschrift »Ros-technologia«, die im Keller der Festung verwahrt wird und die Orekhoff zur Entschlüsselung in die Sowjetunion bringen soll! Überhaupt die ganze Geheimnistuerei: Geheimdienste, ja, aber Geheimbünde? - Die gab es allerdings immer und wird es wahrscheinlich immer geben, einfach weil es Menschen gibt, die darin ihre Verwirklichung sehen. Und Geheimgänge unter dem Kreml? Freilich, davon gehen wir aus.

Im Kontrast zu dieser »esoterischen Linie«, die inzwischen ja zu einem probaten Mittel der Spannungsliteratur geworden ist, stehen die Überlegungen von Alexej Vetrov, Orekhoffs Schwiegersohn, der in gewisser Weise ein Alter Ego des Autors und die eigentliche Hauptgestalt des Romans ist. Weil Vetrov die deutsch-russischen Beziehungen am Herzen liegen, wird uns über lange Strecken diesbezüglich eine Menge dargelegt, gerät der »Politthriller« zum Essay. Man kann das ablehnen, wenn einem Vetrovs Gedankengänge nicht behagen, andernfalls aber wird man gerade diese Passagen als Herzstück des Buches mit größtem Interesse lesen und nach jeder Unterbrechung möglichst schnell wieder zur Lektüre zurückkehren wollen. Weil darin gerade die innere Spannung des Textes besteht, dass man immer wieder auf Details stößt, die bedenkenswert sind.

Alexander Rahr gelingt etwas, das in der Literatur selten ist: Er schlägt einen großen historischen Bogen, verbindet Vergangenes, fast Vergessenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem, über das wir gern mehr wissen würden. Sinn für Zusammenhänge, die in der Tiefe durchaus wirksam sind, auch wenn sie viele Menschen nicht kennen. Der Traum von einem einheitlichen Europa geht doch schon auf Karl V. zurück. Deutsche Kaufleute konkurrierten mit den britischen um russische Einflusssphären. Im Roman erteilt Iwan IV., genannt »der Schreckliche«, der deutschen Abordnung 1554 eine Abfuhr: Russland würde »niemals zum Westen gehören«, denn dieser sei »vom wahren christlichen Glauben abgerückt« und wolle sowieso »den Osten immer kolonisieren«.

Was alles aus der Vergangenheit nicht im eigenen Blickfeld ist! Beim Lesen gewinnt die heutige Welt Tiefenschärfe. Russlands verlorener Krieg gegen Livland, dessen Bündnis mit Polen, die Bestrebungen des Deutschen Ordens, das immer wieder schwierige Verhältnis zum Osmanischen Reich … Oder Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, die wieder ins Gedächtnis geraten, Namen die sich verbinden. Vetrov wird von der CIA entführt, die ihm nicht unvertraut ist, kommt schnell frei und erzählt uns später nebenbei, wie es mit dem Absturz der MH 17 wirklich war. Regime-Change-Versuche in verschiedenen Ländern. »Die USA investierten zwar Millionen in die Verschrottung des russischen atomaren Militärkomplexes …, tatsächlich spionierten sie den Erzfeind nur aus. Russland sollte zur Bedeutungslosigkeit abgerüstet werden - solange Jelzin gierig nach Hilfsgeldern aus dem Westen lechzte.« Der islamische Fundamentalismus: Es gab tatsächlich einen Brief von Ayatolla Chomeini an Gorbatschow, den man im Internet nachlesen kann. Dass dieses Schreiben mir bislang in keiner Weise bedrohlich erschien, war das naiv?

Dass in Russland mindestens seit dem 19. Jahrhundert »Slawophile« und »Westler« miteinander im Streit liegen, gehört vielleicht zum Allgemeinwissen. Dass es seit 2001 die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gibt, in der Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadshikistan, sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch abstimmen, dürfte vielen auch nicht unbekannt sein, ebenso wie die Koalition der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Ob diese Allianzen ein Gegenentwurf zur westlichen liberalen Werteordnung sind? Wenn es zu einer »Eurasischen Union« kommt, wie weit wird sie reichen? Welchen Platz wird Deutschland einnehmen? Was wird sich ändern müssen? Im Buch steckt eine Warnung: Zu US-amerikanischer Kreuzrittermentalität und deutscher Selbstgefälligkeit besteht kein Grund.

Alexander Rahr: 2054. Putin decodiert. Politthriller. Das Neue Berlin. 393 S., geb., 24 €. Buchpremiere mit Alexander Rahr: 4. Oktober, 20 Uhr, Roter Salon, Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; nd-Literatursalon mit Alexander Rahr: 5. November, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

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