Urnengang in einem zerrissenen Land

In Bosnien und Herzegowina geht die Sorge um, die Wahlen am kommenden Sonntag könnten manipuliert werden

  • Elke Windisch, Dubrovnik
  • Lesedauer: 4 Min.

Tote Seelen, Stimmenkauf und Streichung aus den Wählerlisten, weil sie oder er angeblich ins Ausland verzogen sind. Eine rekordverdächtige Zahl von per Briefwahl abgegebenen Stimmen, mit denen sich der Wählerwille in nicht ganz lupenreinen Demokratien am einfachsten manipulieren lässt; Ende September waren es bereits knapp 80 000 bei knapp 3,4 Millionen Stimmberechtigten: Der Urnengang in Bosnien und Herzegowina am kommenden Sonntag, wenn das Parlament und das dreiköpfige Staatspräsidium - die kollektive Führung - neu gewählt werden, sei der bisher schmutzigste, warnen Vertreter der schwachen Zivilgesellschaft.

Auch westliche Diplomaten zeigten sich »besorgt«. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, noch bevor der erste Stimmzettel in die Urnen flog, in über 270 Fällen wegen schwerer Unregelmäßigkeiten. Ein Dutzend Klagen gegen die derzeit geltenden Spielregeln lag auch dem Verfassungsgericht schon im Sommer vor. Durch sie fühlen sich alle drei Staatsvölker über den Tisch gezogen: muslimische Bosniaken (50 Prozent der Bevölkerung), orthodoxe Serben (33 Prozent) und katholische Kroaten (17 Prozent).

23 Jahre sind vergangen, seit die internationale Gemeinschaft mit dem Dayton-Abkommen Frieden erzwang. Bosnien und Herzegowina ist seither de facto eine Konföderation. Sie besteht aus zwei Teilstaaten: der Föderation der Bosniaken und Kroaten und der Republika Srpska (RS). Bei ihnen liegt die eigentliche Macht. Gesamtstaat und -parlament haben nur minimale Kompetenzen. Parteien sind nur nominell gesamtstaatlich und real streng ethnisch sortiert. Die größten sind Ableger der derzeit in Belgrad wie in Zagreb regierenden Nationalkonservativen. Serben und Kroaten favorisieren den Anschluss an die jeweiligen Mutterländer. Die Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die die Interessen der Bosniaken-Eliten vertritt, sieht sich als Juniorpartnerin der türkischen Regierungspartei AKP und deren Vorsitzendem Recep Tayyip Erdoğan.

Ihn hatte SDA-Chef Bakir Izetbegović beim Wahlkampfauftritt des »Sultans« vor 20 000 Auslandstürken aus Westeuropa in Sarajevo am 20. Mai zum Gesandten Gottes hochgelobt. RS-Vormann Milorad Dodik und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wohnten währenddessen, sitzend zur Rechten Wladimir Putins, der Parade zum Tag des Sieges in Moskau als Ehrengäste bei. Und bei TV-Debatten der Kandidaten für das Staatspräsidium hinterließ der verbale Schlagabtausch oft den Eindruck, er werde alsbald mit blanker Waffe fortgesetzt. Parallel dazu stritten die Teilstaaten wie die Kesselflicker um Quoten für den Zugriff auf den Haushalt des Gesamtstaates.

Dieser gleiche immer mehr einer Zwangsjacke mit drei Ärmeln, von denen jeder in eine andere Richtung zerre, lästerte der Soziologe Slavo Kukic aus Mostar in Kroatien. Bosnien, so Aleksandar Trifunović vom Nachrichtenportals BUKA, sei gerade dabei, sich in ein russisches Gouvernement und ein Paschaluk - eine Provinz des Osmanischen Reiches - zu zerlegen. Europa hat zwar auf dem Westbalkan mehr investiert als Russland und die Türkei zusammen, aber, weil auf anderen Großbaustellen beschäftigt, die Region lange »politisch und emotional vernachlässigt«.

Nicht die EU, sondern Russland und die Türkei - alle drei sind Garantiemächte des Dayton-Vertrags - würden daher die Abspaltung der Serbenrepublik verhindern. Daher baue Bosniaken-Führer Izetbegović Ankara goldene Brücken, seinen Einfluss in der überwiegend kroatischen Westherzegowina zu verstärken. Und Moskau stehe für mehr Engagement in der gesamten Föderation. In der RS kontrollieren staatsnahe russische Konzerne bereits die Wirtschaft, machen zwar Milliardenverluste, setzen ihr Engagement jedoch aus politischen Gründen fort. Der Westen sei Hauptfeind für Putin wie Erdoğan, auch deshalb wollten sie Westeuropa und die USA vom Westbalkan verdrängen.

Dazu würden sie die herrschenden Eliten - Nationalisten - unterstützen, die den Konflikt der bosnischen Völker auf kleiner Flamme am Köcheln halten, behauptet Trifunović. Dies wiederum verzögere nicht nur die Herausbildung der Nation, Demokratisierung und Reformen. Es lenke auch von den gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes ab und sichere Männern wie Izetbegović oder Dodik die Wiederwahl.

Kurzfristig hätten sie die besseren Karten, langfristig aber Westeuropa, schon wegen der größeren Nähe zum Westbalkan. Auch für die Zigtausend Unzufriedenen, die bereits mit den Füßen abgestimmt haben, sind nicht Russland oder die Türkei, sondern Deutschland und Österreich das Gelobte Land.

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